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Schneesterben

Schneesterben

Titel: Schneesterben
Autoren: Anne Chaplet
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roten Faden wiedergefunden, als es erneut unten läutete. Auf Strümpfen lief er die Treppe hinunter und hätte beim Anblick von Gottfried fast schallend gelacht. Der Nachbar hielt in jeder Hand ein gerupftes und im Licht der Flurlampe schwindsüchtig aussehendes Suppenhuhn. Milde Gaben für das örtliche Orakel, dachte Bremer und nahm ihm die Kadaver ab. Gottfried folgte in die Küche. Nemax, der auf der Küchenbank geschlafen hatte, stellte die Ohren auf und hielt die Nase in die Luft.
    »Und?« Bremer rückte dem Nachbarn einen Stuhl zurecht und zeigte fragend auf die Flasche mit dem Obstler.
    »Aber nur…«
    »Einen winzigen Schluck, wie immer.« Bremer goß das Wasserglas halb voll.
    »Hast ja mitgekriegt«, sagte Gottfried nach einer Weile, in der er ausgiebig geseufzt und sich den Nacken massiert hatte.
    »Hm.« Paul goß sich auch einen ein. An Arbeiten war eh nicht mehr zu denken.
    Gottfried hob mit abwesender Miene das Glas. »Die Ferbers sind völlig aus dem Häuschen. Sie haben sich einen Anwalt aus der Stadt geholt.«
    Aus der Stadt. Womöglich noch aus Frankfurt. Das bedeutete nichts Gutes.
    »Sie verbreiten überall, der Regler hätte – naja – halt nicht alles so gemacht, wie es sich gehört. Und jetzt wird es eine Untersuchung geben.«
    »In der Zeitung steht, daß David an einer allergischen Reaktion gestorben ist. Das hätte bei jedem Arzt passieren können.«
    »Sicher«, sagte Gottfried und wiegte unschlüssig das Haupt.
    Bremer fragte sich mittlerweile, ob man Thomas Regler eine Chance lassen würde – ihm und seiner Frau. Beide Mitte Dreißig. Keine Kinder.
    »Was weiß man schon«, sagte Gottfried, kippte den Schnaps und erhob sich.
    Keine halbe Stunde später war Marianne an der Tür. Das runde Bauernbrot, das sie ihm in die Hand drückte, war noch ganz warm. Sie hatte das Backhaus angeheizt – und das bei diesem Wetter. »Ach Marianne«, sagte er und küßte sie auf die Wange. Dann zog er sie in die Küche.
    »Aber ich hab’ doch Gummistiefel an. Ich muß gleich noch in den Stall. Ich mach’ dir alles dreckig!«
    Bremer guckte sie liebevoll an. Sie putzte jeden Tag. Er nicht.
    »Und du kehrst ja nicht vor deinem Haus!« Marianne guckte an sich herunter. Die Gummistiefel trugen einen weißen Schneekragen.
    »Na und? Es ist doch längst wieder zugeschneit.« Wenn das so weiterging, brauchten die Nachbarn gar nicht mehr aufzuhören mit dem Schneeschippen. Besser noch, sie fingen erst gar nicht damit an. Mit keimender Anteilnahme fragte er sich, wie hoch der Schnee draußen wohl schon lag und ob er noch trockenen Fußes zum Briefkasten gehen konnte, morgen früh. Und ob es dann überhaupt eine Zeitung geben würde.
    Bremer goß ihr einen Schnaps ins Glas, ohne groß zu fragen. Klarer galt in Klein-Roda nicht als Alkohol, sondern als therapeutische Maßnahme oder soziales Gleitmittel. Er war froh, daß die Flasche fast leer war und er eine Entschuldigung hatte, wenn er nichts trank.
    »Die Ferbers drehen durch.« Marianne prostete ihm zu und leerte das Glas in einem Zug. Sie klang, als habe sich Sonja Ferber über eine Fehllieferung vom Ottoversand beschwert.
    Bremer erschreckte diese ungewohnte Kälte. »Und wenn es dein Kind gewesen wäre, das da auf dem Operationstisch gestorben ist?«
    »Dann würde ich weinen um mein Kind, statt auf Schadensersatz zu klagen!«
    »Aber wenn im Krankenhaus gepfuscht worden ist und wenn Thomas Regler…«
    Marianne schob ihm das leere Schnapsglas hin.
    »Thomas Regler ist in Ordnung. Der bringt sich ja halb um bei jedem Kind, das zu ihm kommt. Ärzte sind auch nur Menschen. Und manchmal will es das Schicksal eben nicht anders.«
    Bremer starrte sie an. Die schöne Nachbarin schien die einzige zu sein, die nicht an die vollkommene Beherrschung des Lebens glaubte. Alle anderen taten so, als ob das Wort Schicksal ihnen nicht mehr geläufig wäre – oder gar so etwas wie Gottes Wille. Heutzutage hatte man kein Unglück, sondern einen Versicherungsschaden.
    »Fragt sich nur, warum er selbst keine Kinder hat.
    Seine Frau hat doch sonst nichts zu tun.«
    Das war nun wieder Marianne, wie er sie kannte. Nie um eine boshafte Bemerkung verlegen – vor allem, wenn es andere Frauen betraf.
    Die Nachbarin hinterließ feuchte Spuren auf dem Fußboden und einen kühlen Lufthauch. Als er die Gläser ins Spülbecken gestellt hatte, ging das Licht aus. Der Kühlschrank röchelte noch einmal auf. Die Uhr am elektrischen Backofen erlosch, langsam, als ob sie sich wundere.
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