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Schneesterben

Schneesterben

Titel: Schneesterben
Autoren: Anne Chaplet
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es in Wirklichkeit Thomas Regler war, der sterben sollte, dann leuchtete die Symbolik der Tatwaffe plötzlich ein: Der Arzt sollte umkommen wie einst sein Opfer, der kleine Martin Brandt. Mit anderen Worten: man mußte den Täter unter den Angehörigen Martin Brandts suchen. Die Eltern hatten wüste Drohungen ausgestoßen für den Fall, daß Peter Bachmann und Johannes v. Braun entlassen würden. Und nun – die späte Rache. Sie durchforstete ihr Gedächtnis. Gab es in der Familie Brandt nur Mutter und Vater oder auch Brüder oder Onkel oder Neffen?
    Die Stimme, die sie aus ihren Gedanken riß, klang amüsiert.
    »Sie kenn’ ich ja gar nicht. Ei suchese was?«
    Die weißhaarige Frau stand auf Krücken gelehnt vorm Gartentor.
    »Den Herrn Bremer«, sagte Karen und zweifelte, daß sie eine vernünftige Antwort kriegen würde. »Oder Willi. Marianne.«
    Die Alte wedelte mit der Krücke und schüttelte den Kopf. »Die sind fort! Die suchen die Frau Regler!«
    Krista Regler. Also doch. »Daaaahinunner sindse«, sang die Alte und lächelte wie ein kleines Mädchen, das fehlerfrei ein Gedicht aufgesagt hatte. Karen bedankte sich, streichelte Nemax zum Abschied und joggte in die angegebene Richtung.
    Als sie von fern den Notarztwagen sah, klopfte ihr Herz. Dann sah sie Menschen. Die Nachbarn. Hoffentlich ist Krista Regler nichts passiert, dachte sie. Sie drängte sich nach vorne und sagte »Staatsanwaltschaft Frankfurt« zu dem Mann in Weiß, der im Begriff war, eine Trage ins Auto zu schieben, auf der man, vom Fuß bis zum Scheitel verhüllt, einen Körper erkennen konnte. Der Mann war erstaunt, nickte aber und lüpfte das Laken.
    Der Tote mußte entsetzlich gelitten haben. Der Knoten des Stricks lag unter dem linken Ohr, der Strang selbst verlief durch den Mund. Obwohl sowohl die Aorta carotides als auch die Aorta vertebrales komprimiert schienen, war der Tod sicher keineswegs sofort eingetreten, womöglich noch nicht einmal bald.
    Karen sah auf. Sie erkannte Gottfried. Und Paul. Und zwischen ihnen Krista Regler.
    »Das ist Jens Peters, unser Postbote«, sagte Bremer.
    »Er ist der Bruder«, sagte Krista und kippte seitlich weg.

51
    W as für ein durchscheinendes Gesicht. Und sie sah aus, als ob sie noch dünner geworden wäre. Aber Bremers Respekt vor Krista Regler begann, in höchste Höhen zu steigen.
    Jens Peters hatte sich erhängt. Er hatte es nicht sehr geschickt angestellt. Die Schlaufe des dicken Stricks hatte sich nicht zugezogen, und da die Decke niedrig war, gab es auch keine Fallhöhe. Er war langsam erstickt und kniete auf dem Boden, als Krista ihn fand. Sie hatte den Sterbenden auf die Schulter genommen und hochgestemmt, bis sie den Strick vom Haken am Deckenbalken gelöst hatte. Dann war sie zu Boden gesunken und zu erschöpft gewesen, um den Mann beiseite zu schieben, der auf sie gefallen war.
    Bremer sah ihr zu, wie sie in der Hühnersuppe rührte, zu hungrig, um zu essen. Vielleicht hatte sie auch Mitgefühl daran gehindert – sie war auch psychisch eine starke Frau, es war ihr zuzutrauen. Schließlich war Jens Peters auf seine Weise ebenfalls ein Opfer der jugendlichen Mörder Martin Brandts gewesen. Er war dessen nachgeborener Halbbruder – aus der zweiten Ehe seiner Mutter Sabine mit Paul Peters. Und er mußte eine erbärmliche Kindheit gehabt haben als ewiger Stellvertreter eines Toten.
    »Natürlich wird sie um ihr Kind getrauert haben, die Mutter«, sagte Karen und stellte Brot auf Bremers Gartentisch. »Aber es kommt nicht gerade selten vor, daß solche Menschen irgendwann nicht mehr so sehr um den Verlust des Menschen trauern, als um den Verlust ihrer Rolle in der Öffentlichkeit, die sie für kurze Zeit ausfüllten.«
    Küchenpsychologie, dachte Bremer. Aber wahrscheinlich hatte Karen recht: Sabine Brandt war ein Medienstar gewesen, wenn auch ein weinender.
    »Und je wichtiger die Medien einen nehmen, desto großartiger wird der Anlaß dafür. Mit der Selbsterhöhung wird auch das tote Kind erhöht.«
    ›»Martin hätte das nicht getan. Martin würde das schaffen. Martin konnte schon mit Messer und Gabel essen, als du noch in die Hose machtest.‹« Kristas Stimme zitterte.
    Um Himmels willen, dachte Bremer.
    »Ist das eigentlich ein Straftatbestand, wenn Eltern ein Kind ständig spüren lassen, daß es nur zweite Wahl ist?« Krista versuchte zu lachen. »Vielleicht hätte er beizeiten seine Eltern umbringen sollen.«
    »Ein verbotener Gedanke«, sagte Karen. »Ebenso verboten wie Haß auf
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