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Schneesterben

Schneesterben

Titel: Schneesterben
Autoren: Anne Chaplet
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fügt von Anfang bis Ende und in der alles mit allem zusammenhängt. Ein Mensch ist nicht die Summe dessen, was er jemals war. Und es stimmt ebensowenig, daß ein Mensch sich nicht verändern kann.
    Es gibt Ereignisse, die aus dem Fluß des Lebens ausscheren, die sich verkapseln und eine Art Knoten in der Biografie bilden. Wie ein unschädlich gemachter Tumor.
    Alles andere wäre ewige Verdammnis. Urteil: Lebenslänglich. Du bist, was du bist, und du wirst immer bleiben, was du warst. Dann waren Johannes und Peter auf immer und ewig Kindermörder, mochten sie auch nach verbüßter Strafe entlassen worden sein.
    Aber so, genauso sahen es die meisten Menschen. Man war heute tolerant gegenüber Straffälligen, die ihre Strafe abgesessen hatten – sofern es sich nicht um dieses eine, dieses ganz spezielle Delikt handelt. Die Einwohner eines Vororts von London hatten jüngst einen des Kindesmißbrauchs bezichtigten und mangels Beweisen aus der Untersuchungshaft entlassenen Mann in den Selbstmord gemobbt. Womöglich war er wirklich unschuldig gewesen. Die Menschen neigen, wenn es um Kinder geht, zu Hysterie.
    Nein, niemand würde verstehen, daß Thomas Regler nicht mehr Peter Bachmann war. Womöglich war es diese Erkenntnis, die ihn hatte aufgeben lassen, vielleicht hatte er sich deshalb im Knast ohne große Gegenwehr demütigen und schließlich umbringen lassen. Er hatte Krista Regler gedeckt, das schien ihr immer klarer. Sie mußte mit der Frau sprechen.
    Andererseits – Krista Regler hatte Hansen womöglich, ja wahrscheinlich angefahren. Ihr Geständnis war außerordentlich glaubwürdig gewesen. Aber sie hatte Hansen nicht danach auch noch erschlagen. Ihr Gesicht während der Hauptverhandlung ließ erkennen, daß sie nicht gewußt hatte, wovon die Rede war, als Edith Manning auf den Busch klopfte. Karen fluchte leise und begann wieder schneller zu fahren. Hatte Bremer nicht etwas über anonyme Briefe erzählt? Und über einen Steinwurf durchs Fenster? Sie nahm die Abfahrt nach Pfaffenheim mit singenden Reifen.
    Es erschien ihr immer wahrscheinlicher, daß auch die Regler in Gefahr war.

49
    Klein-Roda
    B remer konnte sich nicht entscheiden, ob er an den Schreibtisch oder in den Garten gehen sollte. Von Kosinski und Gümüs hatte man nichts mehr gehört. Weder Krista noch Jens waren wieder aufgetaucht. Er stand in der Küche vor dem Wasserkocher, unschlüssig, ob er sich noch einen Tee machen sollte, als jemand draußen die Glocke betätigte.
    Sie sind gefunden, dachte er ohne große Überzeugung und ging zur Tür. Vor ihm stand Willi. Der Nachbar drehte seinen Anglerhut in den Händen, dieses farblose, lappige Hütchen, ohne das er noch nicht einmal zum Zigarettenautomat ging, und guckte verlegen. »Ich wollte nur sagen…«
    Bremer hätte ihn am liebsten daran gehindert, weiterzusprechen. Er konnte sich denken, welche Überwindung den Nachbarn schon diese paar Worte kosteten. »Ich meine, es tut uns allen leid…«
    Da erst sah er, wer hinter Willi stand, die Hände in den Hosentaschen, die Gesichter grimmig und entschlossen. Das halbe Dorf, vielmehr: seine Männer. Wilhelm war nicht dabei, der Alte war noch immer klapprig. Harry – nun ja, auf den konnte er gut verzichten. Aber Jan war da und Wolle und Markus und Safer. Und Gottfried.
    Sein Blick verschwamm. Hinter den Männern glaubte er die Frauen des Dorfes zu sehen. Christine und Annamaria. Kathrinchen und Sabine. Er fühlte, wie seine Augenwinkel feucht wurden, und sah das Glitzern in Willis Augen. Er ließ seine Hand so hart er konnte auf den Rücken des Nachbarn fallen und nickte mannhaft.
    »Ich schlage vor, wir bilden eine Linie und durchkämmen den Wald bis hoch nach Ottersbrunn.« Werner von der Freiwilligen Feuerwehr empfahl, was er immer empfahl. Aber auch Tamara hatte man auf diese Weise nicht gefunden. Bremer wiegte den Kopf.
    Gottfried drängte sich nach vorne. »Als ich gestern den Feldweg Richtung Groß-Roda ging, hat Franz sich schier umgebracht. Also ich schlage vor…«
    »Der Fensterladen stand offen. Ich meine – er war halb angelehnt. Ich bin mir da ziemlich sicher.« Alexander klang, als ob ihn sein Mut zu einer solchen Behauptung selbst erstaunte.
    »Marianne hat erzählt, das Gras auf dem Weg hinunter zur Hütte habe heruntergetrampelt ausgesehen, obwohl seit Wochen niemand da war und es schon richtig hoch stand.«
    »Ihr meint…«
    Gottfried hatte einen Seitenschneider in der Faust und hielt ihn hoch.
    »Das Loch«, sagte Bremer.
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