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Schneesterben

Schneesterben

Titel: Schneesterben
Autoren: Anne Chaplet
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den Bruder, der durch seinen frühen Tod zum Heiligen geworden ist.«
    Wir feinsinnigen Psychologen, dachte Paul. Welch tiefe Einsichten in den menschlichen Gefühlshaushalt. Wahrscheinlich alle richtig. Und dennoch – nicht jedes Kind mit solchen Vorgaben tut schließlich, was uns im nachhinein als so plausibel erscheint.
    »Ein guter Junge rächt seinen Bruder«, sagte Krista.
    »Ein guter Junge haßt die, ›die uns das alles angetan haben‹. Ein guter Junge erfüllt die Wünsche seiner Eltern.« Auch wenn die sich offenbar nichts Geringeres gewünscht hatten als den Tod der beiden ›Kindermörder‹. Aber – Jens Peters hatte Thomas Regler alias Peter Bachmann nicht getötet. Das besorgten andere. Er hatte dessen Frau entführt. Warum?
    »Hat er Ihnen das alles erzählt?« Karen versuchte, sanft zu fragen. Aber man sah ihr den Ermittlerdrang an der Nasenspitze an.
    Krista schob den Suppenteller von sich.
    »Sie müssen nicht«, fügte Karen hinzu.
    »Ich will aber. Wenn ich früher geredet hätte, wäre das alles nicht passiert.« Kristas Stimme wurde leise. Bremer sah, daß ihre Unterlippe zitterte. Dann hatte sie sich gefangen. »Von Anfang an?« fragte sie.
    »Von Anfang an«, sagte Karen.
    Es war dunkel geworden. Nemax und Birdie sprangen den Glühwürmchen hinterher, die um das Haus schwebten. Kristas Stimme begann ihn zu hypnotisieren. Und während sie erzählte, sah Bremer alles wie im Film vor sich.
    Eine Frau kommt nach Hause, die Post in der Hand, die sie aus dem Briefkasten geholt hat. Sie guckt sie flüchtig durch, legt, was für ihren Mann bestimmt ist, auf den Flurtisch und nimmt den anderen Packen mit in die Küche. Spendenbettelbriefe, die Einladung zu einer Vernissage. Der Brief des Gynäkologen.
    »Lieber Thomas, du hast nichts zu befürchten. Nicht, daß ich deine Sorge verstehe – aber du bist noch immer so unfruchtbar wie damals nach unserem kleinen chirurgischen Eingriff.«
    Die Frau schiebt den Brief geistesabwesend in den Umschlag zurück, der, was sie nicht bemerkt hat, an ihren Mann adressiert ist. Sie geht in den Flur, schiebt den geöffneten Brief unter die andere Post und bleibt dann stehen. Sie ist weiß im Gesicht. Sie möchte seit Jahren ein Kind von ihrem Mann. Sie hat alles probiert. Sie kann nicht glauben, daß er ihren Kummer und ihre Enttäuschung Mal um Mal hingenommen hat, obwohl doch ein einziger klarer Satz von ihm die Qual hätte beenden können.
    Karen murmelte irgend etwas Mitfühlendes. Kristas Stimme schwankte. »In dem Moment wußte ich, daß ich mich mit Michael Hansen verabreden würde. Er schrieb seit Wochen E-Mails. Briefe. Rief mich an, wollte mich sehen. Seit dem Abend, an dem ich ihn in Pfaffenheim kennengelernt hatte – nach der Lesung.«
    Bremer hatte die Szene vor Augen, den Auftritt Hansens, das hingerissene Publikum. Hörte nun, wie mitten in der Lesung die Tür aufging zum Kinosaal, sah jemanden leise hineinkommen und sich auf einen Stuhl neben Krista setzen. Glaubte sich plötzlich sogar an den Blick zu erinnern, mit dem Michael Hansen den Spätankömmling musterte: erst stirnrunzelnd, dann erstaunt, dann nachdenklich.
    »Also war Ihr Mann damals doch auf der Lesung?«
    Karen klang noch immer ruhig, aber ihre nervösen Hände zerlegten eine Brotscheibe in kleinste Krümel.
    »Nur kurz. Ich hatte ihn eigentlich früher erwartet, aber es kam ihm wie meistens ein Notfall dazwischen. Und dann war er zu müde, um zu bleiben.«
    Thomas Regler hatte also nicht gesehen, wie sie an diesem Abend strahlend mit der Gruppe um Michael Hansen mitgegangen war, dachte Bremer.
    »Ich rief also Hansen an. Wir verabredeten uns. Der berühmte Kriegsberichterstatter und die Hausfrau.« Krista lachte. »Er schlug Usingen vor, es liegt etwa gleich weit entfernt von Feldern und von Frankfurt.«
    Ein tiefverschneiter Wald. Ein hellerleuchteter Bungalow. Kerzenlicht und Kaminfeuer und ein Mann, der die Champagnerflasche aus dem Kühler nimmt.
    »Ich wollte mit ihm ins Bett. Aus Rache an Thomas.
    Aus Einsamkeit. Was weiß ich. Aber es kam nicht dazu.
    Die ganze Sache endete, wie sattsam bekannt. Ich habe ihn umgefahren. Als ich in den Rückspiegel sah, saß er mitten auf dem Weg, hielt sich das Bein und sah verwirrt aus. Aber er lebte.«
    »Und – warum kam es nicht dazu?«
    Krista hob den Kopf und strich sich die blonden Haare hinters Ohr.
    »Weil er glaubte, mir die Wahrheit sagen zu müssen. Es solle nichts zwischen uns stehen. Er habe seine Buße getan.«
    Der Film in
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