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Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern

Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern

Titel: Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern
Autoren: Matthias Wittekindt
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langen Beine sind von zwei Erwachsenen, und die kurzen gehören vielleicht ihr selbst oder einem Kind. Also ich glaube, das Bild zeigt, wie Geneviève und ihre Mutter eine andere Frau treffen. Vielleicht hat die ein Kind dabei. Oder die kleinen Beine gehören zu Geneviève. Wer weiß.«
    Als Ohayon René Mortiers Laden verlässt und nach Hause geht, denkt er noch eine Weile an Geneviève und ihre Bilder. Aber allmählich löst sich das auf. Und als er zu Hause ankommt und Frau Behling sieht, die sich schon mit dem Baum beschäftigt, da ist Geneviève Mortier, die vielleicht mal Malerin geworden wäre, aus seinem Bewusstsein verschwunden.

    Das Bild mit den sechs senkrechten Strichen.
    Geneviève ist zwei Jahre alt, als sie Kristina zum ersten Mal sieht. Die beiden sind also noch etwas unsicher auf den Beinen, und so schwanken sie ein wenig, während sie sich ansehen. Kristina hält sich am Rock ihrer Mutter fest, und Geneviève hat sich auch ein bisschen hinter ihrer Mutter versteckt. Eine Weile stehen sie einfach so da. Dann tappt Kristina los. Geneviève geht ein Stück weiter hinter ihrer Mutter in Deckung. Aber das hält Kristina nicht davon ab, weiterzugehen. Sie stapft also um Genevièves Mutter herum, und Geneviève weicht immer weiter zurück. Irgendwann sieht Geneviève ein, dass es nichts bringt, sich zu verstecken. Sie bleibt also stehen und lässt das fremde Wesen an sich herankommen. Geneviève lacht. Das Lachen ist ansteckend.Jetzt geht die Begrüßung richtig los. Die beiden betatschen sich ungelenk mit ihren kleinen Händen und lachen sich kaputt dabei.
    Das war die erste Begegnung zwischen Geneviève und Kristina. Und damit begann eine Freundschaft, die vierzehn Jahre lang hielt. So lange, bis Geneviève anfing, sich ernsthaft für Jungen zu interessieren.
    Natürlich erinnert sich Kristina nicht an diese erste Begegnung mit Geneviève. Kein Mensch erinnert sich an Dinge, die er im Alter von zwei Jahren erlebt hat. Der Verstand hat das eben so an sich. Diese Unzuverlässigkeit, was die Erinnerung angeht. Und manchmal ist der Verstand deswegen sogar mit sich selbst unzufrieden! Ja, und dann fällt ihm nichts Besseres ein, als wirres Zeug zu produzieren. Zum Beispiel im Schlaf. Kristina jedenfalls träumt in den Monaten nach Genevièves Tod komische Sachen. Zum Beispiel, dass sie Geneviève mit einem Gegenstand erschlägt, der einer Walze gleicht. Einer Walze, die in ihren Träumen zwar runterfällt »wie etwas Großes«, die Geneviève aber nicht trifft. Umgefallen war sie, nachdem sie gegen den Pfeiler geprallt war. Es war dann etwas sehr Starkes und Schnelles passiert, als Geneviève gerade aufstehen wollte. Etwas ganz Schreckliches. Mit diesem Gefühl jedenfalls wacht Kristina immer auf.
    Erst viel später begreift sie, was für ein Glück sie hatte. Als sie am nächsten Morgen mit ihrer Mutter sprach, war sie so verwirrt, dass sie sich einbildete, Geneviève erschlagen zu haben. Einfach weil sie total betrunken war und wütend und weil sie nicht wollte, dass Geneviève sie verließ und zu den ekligen Jungen ging. Oder war auch das schon Traum? Ihre Mutter hatte sie dann nach Braunschweig gebracht, und als sie zurückgeholt wurde, hatte der Pfarrer sie noch mal gefragt, was passiert war. Da war sie sich schon unsicher gewesen. Vor allem stand ja in der Zeitung, dass Heimann es war. Das war wichtig für sie. Der Pfarrer hatte lange mit ihr geredet. Nicht über sie, sondern über ihre Mutter. Über die Tatsache, dass ihre Mutter sich und allen anderen ständigeinredete, an irgendetwas schuld zu sein. Darüber, dass sie sich von ihrer Mutter in diesen Irrsinn nicht reinziehen lassen sollte. Kristina war am Ende so durcheinander gewesen, dass sie nur noch geweint hatte. Aber der Pfarrer hatte sie nicht im Stich gelassen, sondern sie vor sich selbst beschützt.
    Und er hatte das Verhör mit ihr geübt. Immer und immer wieder. Bis sie endlich klar war im Kopf. Der Pfarrer war unerbittlich bei ihrer Rettung. Sie durfte nur das sagen, was wirklich geschehen war.
    Es ging also gut für sie aus.
    Und irgendwann verschwanden die schrecklichen Träume, und nur das Erklärliche blieb.

    »Setz dich, Ohayon.« Es ist acht Uhr morgens, ein trüber Tag. Also macht Roland Colbert erst mal Licht in seinem Büro. Die Neonbeleuchtung springt, wie immer, zuverlässig an. »Kaffee?«
    »Nee, hatte schon, danke.«
    Roland Colbert setzt sich hinter seinen Schreibtisch und sieht Ohayon an. Dem kommt das komisch vor. So
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