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Schneekuesse

Schneekuesse

Titel: Schneekuesse
Autoren: Gaby Hoffmann
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haben Sie denn überhaupt den Kaffee her?“
    „Eric hat uns heute früh einige Sachen für das Frühstück vorbeigebracht. Hier sind Eier für Rührei und Brot ...“
    Netty beobachtet ihre aufgekratzte Nachbarin, die gestern noch Selbstmord begehen wollte. Sie trägt Nettys Pullover und Jeans. Es schlackert ein bisschen, weil sie so mager ist, aber sonst steht es ihr gut. Von Depressionen keine Spur. Auch der Alkohol scheint keinerlei Nachwirkungen zu zeigen. 
    „Haben wir nicht gestern Brüder... äh Schwesternschaft getrunken?“, Netty erinnert sich an die sentimentale Stimmung zu fortgeschrittener Stunde. Wenn man schon zusammen Weihnachten feiert, sollte man sich wenigstens duzen.
     „Ach, ja!“, Linda schlägt sich vor die Stirn. „Entschuldigung. Ich habe Ihnen, nein, dir noch gar nicht für die Gastfreundschaft gedankt. Es bedeutet mir unendlich viel, Heiligabend nicht alleine verbringen zu müssen.“
    „Oder gar tot zu sein!“ Hannah taucht mit zerzausten Haaren im Pyjama auf und angelt sich eine Scheibe Brot, in die sie herzhaft hineinbeißt.
    „Hannah, das ist ja makaber!“, rügt Netty deren Ausspruch und kommt sich gleichzeitig wie die Mutti der Nation vor.
    „Nein, nein, Hannah hat absolut recht. Wenn ihr nicht gewesen wäret, wer weiß, wo ich dann heute wäre. Ich stehe tief in eurer Schuld“, beteuert Linda ernsthaft.
    „Schuldgefühle sind für einen Neuanfang Gift. Das vergiss mal ganz schnell! Außerdem – mit diesem herrlichen Frühstück hast du alles abgegolten.“ Netty deutet auf den gedeckten Esstisch, auf dem goldgelbes Rührei auf drei Tellern liegt. Dazu gibt es getoastete Brotscheiben, die nur darauf warten, mit Butter und einer Ansammlung verschiedener Marmeladen – vermutlich alles aus Erics Haushalt – bestrichen zu werden. 
    Sogar eine Kanne mit Orangensaft stellt Linda jetzt noch dazu. 
    Netty muss zugeben, dass sie auf diese Genüsse hätte verzichten müssen, wäre ihr ursprünglicher Plan, Weihnachten hier alleine zu verbringen, aufgegangen. 
    „Ach, das hattest du gestern im Wohnzimmer liegenlassen. Es hat einige Male geklingelt und gepiept. Ich wollte dich aber nicht wecken“, Linda reicht Netty ihr Telefon.
    Netty schaut kurz auf das Display. Mehrere Anrufe von Ulf und SMS, in denen er sie bittet, sich sofort zu melden. „Danke, das kann warten!“
    „Dein Mann?“
    „Hmm ...“
    „Lass ihn nicht zu lange warten! Sonst ist es irgendwann zu spät.“
     
    Hannah und Linda haben die kleine Küchenzeile in eine Backstube verwandelt. 
    „Heiligabend ohne Kekse geht gar nicht!“, hat Hannah verkündet und ist zu Eric marschiert, um seine Vorratskammer zu durchstöbern.
     
    Eric ist zu seiner eigenen Verwunderung – warum macht er das bloß? – extra zu einem Bauern in der Nähe gefahren und hat dort Milch, Butter und Eier geholt. 
    Auf dem Weg sieht er immer wieder Hannahs Gesicht vor sich, wie sie ihn aus ihren großen, braunen Augen anschaut, die vollen Lippen zu einem strahlenden Lächeln verzogen. Sie hat so etwas Unverdorbenes, Frisches. Ihre Freude auf Heiligabend ist beinahe kindlich. Aber nicht so, dass Eric sich darüber lustig macht oder sie als naiv zurückweist, wie es sonst so seine Art ist. Nein, sie ist ansteckend. Ganz, ganz weit hinten in seinem Herzen fühlt er jetzt selbst so ein winziges Stück Vorfreude auf heute Abend. Das ist etwas, was lange verschüttet war. 
    Seit der Enttäuschung mit Christine hat er jede Einladung zu irgendeinem Fest abgelehnt. Auch dem Drängen seiner Mutter, doch Heiligabend mit ihr und dem Vater zu verbringen, hat er nie nachgegeben. Er mag seine Eltern, das war es nicht, aber er konnte bisher einfach nicht länger mit anderen Menschen zusammensitzen und Harmonie vorgaukeln, wo er keine innere Harmonie fühlte. Die fand er bislang nur im Wald.
    Er denkt wieder an heute Abend. Ob diese unbeschwerte Hannah wohl die Stille der Natur mag? Oder ob sie das wie Christine schnell langweilen wird, sodass sie sich nach geräuschvollen Partys in der Stadt sehnt?
    Eric weiß es nicht. Er weiß nur, dass da Hoffnung ist und sich in seinem Inneren eine Tür langsam öffnet, die bisher fest verriegelt war. Er kann sein Misstrauen anderen Menschen gegenüber nicht mehr unbegrenzt aufrechterhalten. 
    Hannah wirkt so echt, dass er ihr einfach nichts Schlechtes zutrauen kann. Und auch die anderen beiden Frauen sind jede auf ihre Art herzlich. Das liegt wohl daran, dass sich gestern Abend niemand verstellt oder eine
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