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Schneekuesse

Schneekuesse

Titel: Schneekuesse
Autoren: Gaby Hoffmann
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Stockwerke in den Himmel ragte, der hier so endlos erschien, weil am Horizont nur das Meer in der gleichen Farbe auftauchte. Die verwitterte Backsteinfassade reflektierte die Sonnenstrahlen und tauchte das merkwürdige Haus in ein schillerndes Blutrot. Wie ein furchteinflößender und doch zugleich faszinierender Fremdkörper hob es sich von den wesentlich kleineren Cottages der Nachbarschaft ab, die in gehörigem Respektabstand an das Grundstück grenzten.
    Vorne, zur Straßenseite hin, schlängelte sich nur ein schmaler Fußweg an dem etwas erhöht stehenden Haus vorbei. An beiden Seiten jedoch riegelte hohes Mauerwerk, das von dornigen verwilderten Kletterrosen umrankt wurde, jeglichen Einblick auf den Rest des Gebäudes und den Garten ab. Nur die endlos erscheinende Weite des Horizonts verriet das offensichtlich dahinterliegende Meer.
    Die beiden Frauen stiegen die Stufen hoch. Sandra bewegte einen Türklopfer mit großem, goldenem Löwenkopf, der eher zu einem Schloss als zu dem seltsamen Haus gepasst hätte.
    Ein dünnes, junges Mädchen mit blassem Gesicht und kurzen, dunklen Haaren, in Jeans, weißem T-Shirt und Turnschuhen öffnete die Tür.
    „Hallo! Laura, nicht wahr?“, fragte Sandra, „wir möchten zu Ginger. Ich habe angerufen, dass wir kommen.“
    Das junge Mädchen nickte stumm und machte ihnen ein Zeichen, ihr zu folgen.
    Sie durchschritten einen langen, dunklen Vorflur, glitten über einen blankpolierten Holzfußboden, der Jill an eine Tanzfläche erinnerte, durch ein weitläufiges Vestibül, von dem viele Zimmer abzweigten. Es war relativ karg möbliert. Weißgestrichene Wände mit polierten Spiegeln, links und rechts einige altersschwache Kommoden, die auf ihren leicht wackeligen Beinen nicht allzu kostbar wirkende, antike Porzellanvasen und Karaffen balancierten.
    Wie ein kleiner Schatten wanderte Laura voraus. Sie bewegte sich so leicht und katzenhaft, als wäre sie bemüht, möglichst weder irgendwelche Spuren zu hinterlassen noch jegliche Art von Geräuschen zu verursachen. Beinahe so, als gäbe es sie überhaupt nicht.
    Sie betraten jetzt einen gelb gestrichenen Raum mit mehreren bequemen, aber leicht abgewetzten Polstermöbeln. An der Wand hingen eingerahmte Schwarz-Weiß-Fotos, die eine Primaballerina in verschiedenen Posen zeigten. Einige vergessene Becher, Zeitschriften, Bücher, eine Obstschale und Aschenbecher auf einem großen, verkratzten Nussbaumtisch in der Mitte deuteten daraufhin, dass das Zimmer anscheinend als Aufenthaltsraum von mehreren Personen genutzt wurde. Die weiße Doppelflügeltür stand weit offen zur Terrasse und ließ angenehm samtig warme Meeresluft ins Zimmer. Trotzdem gelangte nicht viel Tageslicht hinein, weil dicht belaubte Zweige einen Teil der Fenster beschatteten und den größten Teil des Lichts schluckten.
    Laura deutete nach draußen.
    Die Frauen traten ins Freie.
    Jill kniff einen Moment lang die Augen zu, weil sie die grellen Sonnenstrahlen nach der Dunkelheit drinnen blendeten. 
    Auf der Terrasse saßen drei Frauen an einem zierlichen Eisentischchen mit verschnörkelten Verstrebungen und tranken Tee.
    Eine Blondine schob zur Begrüßung ihren Stuhl zurück. „Guten Tag, ich bin Ginger Carlton. Sandra hat mir erzählt, dass Sie uns heute besuchen“, reichte sie Jill die Hand und wandte sich Sandra zu, „hallo Sandra, ich freue mich, dass du endgültig bei uns einziehst!“ Ginger Carlton stand kerzengerade vor ihnen, so als hätte sie einen Stock verschluckt, der ihrem Körper vom Kopf bis zu den Füßen Spannung verlieh.
    Unwillkürlich straffte Jill die Schultern und zog ihren Bauch ein.
    Ginger Carlton war um die Vierzig, sah aber jünger aus. Bis auf einige, verräterische Fältchen um Mund, Nase und Augen wirkte ihr Gesicht glatt und zeichnete sich durch einen zarten ebenmäßigen Teint aus, der ihr jugendliches Aussehen ebenso unterstrich wie ihr modischer Kurzhaarschnitt. Perfekt geföhnt schwang ihr eine Ponysträhne stets wie unabsichtlich bei jeder Bewegung leicht in die Stirn. Wer näher hinschaute, erkannte jedoch die Absicht dahinter: Sie verlieh ihr einen Hauch von Weichheit. Große, wasserblaue Augen mit langen, schwarzen Wimpern, die sie beim Sprechen manchmal kurz zusammenkniff und im nächsten Moment wieder extrem weit aufriss, saßen über einer ein wenig scharf geschnittenen Nase, die für ein beinahe klassisch anmutendes, griechisches Profil sorgte. Breitgezeichnete, dunkle Augenbrauen gaben ihr eine gewisse Härte, die auf
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