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Schließe deine Augen

Schließe deine Augen

Titel: Schließe deine Augen
Autoren: John Verdon
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Stimme gewann reflexartig an Schärfe. »Ich weiß noch zu wenig, um mir irgendwas vorzustellen.«
    Sie schenkte ihm ein charakteristisches skeptisches Lächeln. »Ich muss jetzt los.« Als sie die Ratlosigkeit in seinen Augen bemerkte, fügte sie hinzu: »In die Klinik, erinnerst du dich? Bis heute Abend.« Dann war sie verschwunden.
    Zuerst starrte er nur auf die leere Tür. Dann fand er, dass er ihr nachlaufen sollte, setzte sich in Bewegung, kam bis in die Mitte der Küche und stoppte, weil er keine Ahnung hatte, was er sagen sollte. Trotzdem trat er schließlich durch die Seitentür in den Garten. Doch als er endlich zur Vorderseite des Hauses gelangte, hatte ihr Wagen schon die Hälfte des schmalen Feldwegs hinter sich, der die untere Wiese durchschnitt. Er überlegte, ob sie ihn im Rückspiegel bemerkt hatte, ob es einen Unterschied machte, dass er ihr nachgerannt war.
    In den letzten Monaten hatte er das Gefühl gehabt, dass es zwischen ihnen recht gut lief. Die nackten Emotionen am Ende des Mellery-Albtraums hatten sich zu einem fragilen Frieden entwickelt. Unmerklich und fast unbewusst waren sie in liebevolle oder zumindest tolerante Verhaltensmuster verfallen, die getrennten elliptischen Umlaufbahnen glichen. Während er gelegentlich Seminare an der Polizeiakademie abhielt, hatte Madeleine an der örtlichen psychiatrischen Klinik eine Teilzeitstelle angenommen, bei der sie für die Aufnahme und Beurteilung von Patienten zuständig war. Für diese Tätigkeit war sie als klinische Sozialarbeiterin deutlich überqualifiziert, aber dieser Job brachte ein neues Gleichgewicht in ihre Ehe und verringerte den Druck, der von ihren wechselseitigen, unrealistischen Erwartungen ausging. Oder war das nur Wunschdenken?
    Wunschdenken. Das universelle Beruhigungsmittel.
    Er verharrte im verfilzten, ausgedörrten Gras und beobachtete, wie ihr Auto hinter der Scheune auf die enge Stadtstraße bog. Auf einmal fror ihn an den Füßen. Ein Blick nach unten zeigte ihm, dass er in Socken herausgekommen war, die sich jetzt mit Morgentau vollsaugten. Als er sich wieder zurück zum Haus wenden wollte, fiel ihm bei der Scheune eine Bewegung auf.
    Ein einsamer Kojote war aus dem Wald aufgetaucht und stakste über die Lichtung zwischen Scheune und Weiher. Auf halbem Weg stoppte das Tier, drehte den Kopf zu Gurney und musterte ihn volle zehn Sekunden lang. Es war ein intelligenter Blick, wie Gurney fand. Ein Blick reiner, emotionsloser Berechnung.

4
Die Kunst der Täuschung
    »Welches Ziel haben alle verdeckten Operationen miteinander gemein?«
    Gurneys Frage löste verschiedene Abstufungen von Interesse und Verwirrung auf den neununddreißig Gesichtern im Seminarraum der Polizeiakademie aus. Die meisten Gastreferenten stellten sich zunächst vor, präsentierten einen Lebenslauf und skizzierten dann kurz Inhalt und Ziele der Veranstaltung. Doch diesem allgemeinen Blabla schenkte sowieso niemand große Beachtung. Deshalb kam Gurney lieber gleich zum Kern der Sache, vor allem da sich die Gruppe aus erfahrenen Beamten zusammensetzte. Wer er war, wussten sie ohnehin. In Strafverfolgungskreisen hatte er einen eindeutigen Ruf, der so gut war, wie er in dieser Sphäre nur sein konnte. Seit seiner Pensionierung vor zwei Jahren war er nur noch besser geworden – wenn Respekt, Ehrfurcht, Neid und Missgunst als Maßstab dafür gelten konnten. Persönlich hätte er gern auf jeden Ruf verzichtet. Auf alle Erwartungen, die er erfüllen musste und nicht enttäuschen durfte.
    »Denken Sie darüber nach.« Er sprach mit ruhiger Intensität und suchte den Blickkontakt zu möglichst vielen Leuten im Zimmer. »Was müssen Sie in einer verdeckten Situation immer erreichen? Das ist eine wichtige Frage, und ich möchte von jedem hier eine Antwort hören.«
    In der ersten Reihe hob sich eine Hand. Das Gesicht über dem mächtigen Körper eines Footballspielers wirkte jung und verdutzt. »Muss das Ziel nicht in jedem Fall anders sein?«
    »Die Situation ist immer anders.« Gurney nickte zustimmend. »Die Leute sind anders. Risiko und Nutzen sind anders. Tiefe und Dauer Ihres Eintauchens in das Umfeld sind anders. Die Person, die Sie spielen, Ihre Tarnidentität also, kann völlig anders sein. Die Art der gesuchten Erkenntnisse oder Beweise wird sich von Fall zu Fall unterscheiden. Es gibt also jede Menge Unterschiede. Aber …« Wieder suchte er die Augen möglichst vieler Teilnehmer, ehe er mit steigender Emphase fortfuhr. »Aber bei allen Aufträgen
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