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Schließe deine Augen

Schließe deine Augen

Titel: Schließe deine Augen
Autoren: John Verdon
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doch zu früh gegen die Pflichten eines Landbesitzers eingetauscht hatte.
    Eine Reihe ominöser Ereignisse ließ diesen Schluss zu. Seit dem Umzug in ihr pastorales Paradies hatte sich bei ihm ein schwacher Tick im linken Augenlid entwickelt. Zu seinem und zu Madeleines Leidwesen hatte er nach fünfzehn Jahren Abstinenz wieder angefangen, sporadisch zu rauchen. Und dann gab es natürlich noch das Tabuthema schlechthin: seine Entscheidung im vergangenen Herbst, ein Jahr nach Beginn des Ruhestands, sich in den grauenvollen Mordfall Mellery einzuschalten.
    Dieses Abenteuer hatte er nur knapp überlebt und dabei sogar noch Madeleine in Gefahr gebracht. In einem Augenblick der Klarheit, wie er oft auf eine Begegnung mit dem Tod folgt, hatte er beschlossen, sich fortan konsequent den einfachen Freuden des Landlebens hinzugeben. Doch solche kristallklaren Vorsätze haben etwas Seltsames an sich. Wenn man sich nicht jeden Tag damit auseinandersetzt, verfliegt die Vision schnell wieder. Ein Moment der Gnade ist eben nur ein Moment. Ohne aktive Mitwirkung wird er rasch zu einer Art Gespenst, zu einem flüchtigen Netzhautbild, das entschwindet wie die Erinnerung an einen Traum, bis er irgendwann nur noch ein disharmonischer Ton in der Grundstimmung des Lebens ist.
    Und diesen Prozess zu durchschauen, das musste Gurney feststellen, bot noch lange nicht den magischen Schlüssel zu seiner Umkehrung – mit dem Ergebnis, dass er gegenüber dem bukolischen Leben allenfalls eine halbherzige Haltung aufbringen konnte. Diese Haltung setzte ihn wiederum in Widerspruch zu seiner Frau. Und sie brachte ihn ins Grübeln: Konnte man sich wirklich ändern? Oder besser: Konnte er sich wirklich ändern? In dunkleren Momenten entmutigte ihn die arthritische Starrheit seiner Denkweise – und noch mehr seiner Seinsweise.
    Die Sache mit dem Bulldozer war ein gutes Beispiel. Vor einem halben Jahr hatte er das kleine Fahrzeug gebraucht gekauft und es Madeleine als praktisches Werkzeug beschrieben, das für den Besitz von zwanzig Hektar Wald und Wiesen und einer vierhundert Meter langen, unbefestigten Auffahrt angemessen war. Er sah es als Anschaffung für die nötige Landschaftspflege und positive Verbesserungen – eine gute und nützliche Sache. Sie dagegen betrachtete es offenbar von Anfang an nicht als ein Gerät, das ihn womöglich zu mehr Engagement für ihr neues Leben anspornen könnte, sondern als lärmendes, nach Diesel stinkendes Symbol seiner Verdrossenheit, seines Unmuts über ihre Umgebung, seiner Unzufriedenheit über den Umzug aus der Stadt in die Berge, seines Verlangens, eine verhasste neue Welt nach seinen kontrollbesessenen Vorstellungen plattzuwalzen.
    Nur einmal hatte sie kurz einen Einwand geäußert: »Warum kannst du das alles um uns herum nicht einfach als Geschenk annehmen, als unglaublich schönes Geschenk, anstatt sofort daran rumzudoktern?«
    Als er sich an der Glastür voller Unbehagen an ihre Bemerkung und den von sanfter Verzweiflung geprägten Ton erinnerte, drang plötzlich von hinten ihre wirkliche Stimme an sein Ohr.
    »Besteht die Chance, dass du dir bis morgen noch meine Fahrradbremsen anschaust?«
    »Ich hab’s dir doch versprochen.« Erneut nahm er einen Schluck Kaffee und zuckte zusammen. Er war unangenehm kalt. Er schielte auf die alte Pendeluhr über der Kiefernholzanrichte. Ihm blieb fast noch eine ganze Stunde, bevor er zu einem seiner gelegentlichen Gastseminare bei der Polizeiakademie von Albany aufbrechen musste.
    »Du solltest wirklich mal mitkommen.« Sie klang, als wäre es eine spontane Idee.
    »Mach ich bestimmt.« Seine übliche Erwiderung auf ihre regelmäßig wiederkehrende Aufforderung, sie zu einem ihrer Fahrradausflüge durch die hügelige Farm- und Waldlandschaft der westlichen Catskills zu begleiten. Langsam wandte er sich zu ihr um. In einer alten Leggins, einem ausgeleierten Sweatshirt und einer Baseballmütze mit Farbflecken lehnte sie in der Tür zum Essbereich. Unwillkürlich musste er lächeln.
    »Was ist?« Sie legte den Kopf schief.
    »Nichts.« Manchmal war ihre Gegenwart so unmittelbar bezaubernd, dass jeder verwirrte, negative Gedanke aus seinem Kopf verschwand. Sie hatte die seltene Eigenschaft, trotz ihrer Schönheit überhaupt nicht auf ihr Aussehen zu achten. Sie trat neben ihn und ließ den Blick über die Landschaft schweifen.
    »Die Rehe haben sich über das Vogelfutter hergemacht.« Sie hörte sich eher amüsiert als verärgert an.
    Die drei Futterspender für Finken
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