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Schließe deine Augen

Schließe deine Augen

Titel: Schließe deine Augen
Autoren: John Verdon
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Vorfälle aus seiner persönlichen Erfahrung nennen können – Situationen, in denen er einen dunklen Stein aus dem Mosaik seiner Kindheit zu einem höllischen Wandgemälde aufgeblasen hatte, um ein paar äußerst gerissene Gegner hinters Licht zu führen. Das schlagkräftigste Beispiel für diesen Prozess hatte sich erst vor knapp einem Jahr zugetragen, am Ende des Falls Mellery. Doch darauf wollte er jetzt nicht eingehen. Denn dabei standen ungeklärte Fragen seines Lebens zur Debatte, an die er nicht rühren wollte, zumindest nicht jetzt im Rahmen dieses Seminars. Das war auch gar nicht erforderlich. Er hatte das Gefühl, dass ihm die Teilnehmer bereits folgten. Sie hörten ihm mit offenen Ohren zu und diskutierten nicht mehr. Sie dachten nach, wunderten sich, waren empfänglich.
    »Schön, wie gesagt, das war die emotionale Seite. Jetzt möchte ich mit Ihnen die nächste Stufe erklimmen – die Stufe, wo Gehirn und Emotionen zusammenwirken, damit Sie zu einem wirklich guten verdeckten Ermittler werden, nicht nur ein Typ mit komischem Hut und rutschender Schlabberhose, der aussehen möchte wie ein Cracksüchtiger.«
    Von mehreren Seiten Lächeln, Achselzucken, das eine oder andere skeptische Stirnrunzeln darunter.
    »Deshalb komme ich nun zu einem merkwürdigen Ansinnen. Ich möchte, dass Sie sich fragen, warum Sie glauben, was Sie glauben. Warum glaube ich etwas? «
    Bevor sie Zeit hatten, sich von den abstrakten Tiefen dieser Problemstellung verwirren oder abschrecken zu lassen, drückte er auf die Playtaste des Videogeräts. Als das erste Bild erschien, fügte er hinzu: »Während Sie sich den Film anschauen, behalten Sie bitte immer diese Frage im Hinterkopf: Warum glaube ich etwas? «

5
Der Heureka-Trugschluss
    Es war eine berühmte Szene aus einem berühmten Film, den jedoch niemand der Anwesenden zu kennen schien.
    Ein älterer Mann verhört einen jüngeren: Der junge Mann möchte unbedingt für die Irgun arbeiten, eine radikale Organisation, die gegen Ende des zweiten Weltkriegs für die Gründung eines jüdischen Nationalstaats in Palästina kämpfte. Überheblich präsentiert er sich als erfahrener Sprengstoffexperte, der seine Kenntnisse im Umgang mit Dynamit beim Kampf gegen die Nazis im Warschauer Getto erworben hat. Nachdem er viele Nazis getötet hatte, so behauptet er, wurde er gefasst und musste als Gefangener im Konzentrationslager Auschwitz einfache Putzarbeiten verrichten.
    Der Ältere will mehr erfahren und stellt ihm mehrere präzise Fragen zum Lager, zu seinen Aufgaben.
    Die Geschichte des jungen Mannes beginnt zu bröckeln, als der Vernehmer darauf hinweist, dass es im Warschauer Getto kein Dynamit gab. Notgedrungen gibt er zu, dass er sein Wissen über Dynamit bei seiner wahren Aufgabe im Lager erworben hat. Diese bestand darin, Löcher in den Boden zu sprengen, in denen die zahllosen, täglich in den Gaskammern ermordeten Mitgefangenen verscharrt wurden. In die Enge getrieben legt der junge Mann ein noch furchtbareres Geständnis ab: Seine andere Aufgabe war, die Goldfüllungen aus dem Mund der Leichen zu brechen. Zuletzt bricht er unter Tränen der Scham und der Wut zusammen und bekennt, im Lager wiederholt von den Nazis vergewaltigt worden zu sein.
    Damit liegt die nackte Wahrheit auf dem Tisch – zusammen mit seinem verzweifelten Wunsch nach Wiedergutmachung. Die Szene endet mit seiner Aufnahme in die Irgun.
    Gurney schaltete das Videogerät ab und wandte sich wieder den neununddreißig Gesichtern zu. »Also, worum geht es da?«
    »So einfach müsste jedes Interview laufen.« Falcone winkte ab.
    »Und so schnell«, ergänzte jemand aus der hintersten Reihe.
    Gurney nickte. »In Filmen spielen sich die Ereignisse immer einfacher und schneller ab als im realen Leben. Aber in dieser Szene passiert etwas wirklich Interessantes. Wenn Sie sich in einer Woche oder einem Monat daran erinnern, welcher Aspekt wird Ihnen besonders im Gedächtnis bleiben?«
    »Dass der Junge vergewaltigt wurde«, antwortete ein breitschultriger Typ neben Falcone.
    Beifälliges Gemurmel lief durch den Raum und ermunterte andere, sich ebenfalls zu Wort zu melden.
    »Sein Zusammenbruch bei dem Verhör.«
    »Ja, wie sich das ganze Machogehabe in Luft auflöst.«
    »Komisch«, bemerkte die einzige schwarze Teilnehmerin. »Er erzählt Lügen, um was zu erreichen, aber am Schluss erreicht er es und wird Mitglied der Irgun, weil er die Wahrheit sagt. Und was ist eigentlich diese Irgun, verdammt?«
    Mit ihrer Frage
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