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Kunstgriff

Kunstgriff

Titel: Kunstgriff
Autoren: Gmeiner-Verlag
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    Sonntag, der 8. Juni
     
    Das letzte Lebensjahrzehnt des großen Malers Alexej von Jawlensky war gezeichnet von Armut und Schmerz. In den Jahren zuvor erfuhr er Demütigungen und Missachtung. Was würde er empfinden, könnte er die Schar kunstbegeisterter Menschen erleben, die sich mehr als ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod versammelt hatte, um den Ankauf eines Bildes zu feiern, das die namhafte Wiesbadener Sammlung ergänzte? Genugtuung? Stolz? Mit diesen müßigen Überlegungen folgte Norma den Besuchern durch die Säle mit Jawlenskys Werken. Bereichert wurde die Ausstellung von Gemälden weiterer Expressionisten wie Emil Nolde, Max Beckmann, Ernst Ludwig Kirchner und Paula Modersohn-Becker . Norma ließ sich Zeit für die jüngste Erwerbung. Tiefgründiges Blau schmiegte sich an erdiges Rot. Federleichte gelbe Tupfen schimmerten im umschließenden Grün, umrahmt von prägnantem Orange.
    Sachte Schritte auf dem Parkett neben ihr. »Diese Ausdruckskraft der Farben! Meine Köpfe sind eine sehr schöne und tiefe Sprache, heißt es in seinen Briefen.«
    Sie wandte sich Lutz Tann zu, ihrem Schwiegervater. Die Ereignisse um Arthurs Tod hatten sie nicht auseinander gebracht, sondern im Gegenteil ihre gegenseitige Achtung und die zarte Zuneigung füreinander vertieft. Als Sponsor hatte er das Museum beim Kauf unterstützt und Norma eingeladen, ihn zu diesem Empfang zu begleiten. Die Reden waren gehalten, doch Lutz wusste noch einiges zu erzählen. Das Leben des Malers, der – 1864 in Russland geboren – im Jahr 1921 in Wiesbaden, der Wahlheimat vieler russischer Emigranten, ein neues Zuhause suchte, stand hier unter keinem guten Stern. Unter den Nationalsozialisten wurden die Meisterwerke des Expressionisten als ›entartet‹ geächtet. Obwohl er in Deutschland nicht ausstellen durfte, malte Jawlensky unermüdlich weiter. Gepeinigt von Polyarthritis und Behandlungsmethoden, die eher Öl ins Feuer der Krankheit schütteten als es zu löschen, gab er seine Berufung nicht auf. Im März 1941 fand er auf dem russischen Friedhof seine letzte Ruhe.
    Normas Blick kehrte zum Bild zurück, auf dem sie unvermutet eine zarte Linie in Violett entdeckte, die das Gelb vom Grün trennte.
    Lutz räusperte sich verlegen. »Ich rede und rede.«
    »Einem Kenner höre ich gern zu. Obwohl, die Bilder sprechen eigentlich für sich. So schön, und gleichzeitig scheinen sie Schmerz und Trauer widerzuspiegeln.«
    Sie deutete auf die Reihe der ›Abstrakten Köpfe‹.
    »Es wäre einseitig, nur die tragischen Seiten zu sehen. Jawlensky wusste das Leben durchaus zu genießen.«
    Sie lächelte. »Gemeinsam mit seinen Frauen? Von diesen Geschichten habe ich gehört. Was mich ein wenig wundert, sofern man nach seinem Äußeren geht. Auf den Fotos wirkt er, wie soll ich sagen, eher unscheinbar.«
    »Mag sein. Trotzdem besaß er die bemerkenswerte Begabung, sich mit einflussreichen Frauen zu verbünden. Mit starken und selbstbewussten Frauen, die ihn nach Kräften unterstützten.«
    »Was seiner Ehefrau nicht gefallen konnte. War sie nicht sein früheres Dienstmädchen, und er heiratete sie, als der Sohn bereits erwachsen war?«
    Er behielt sein Lächeln bei. »Helene Nesnakomoff hielt trotz der Affären tapfer zu ihm.«
    »Beziehungen, die seine Kunst förderten?«
    »Ja, zum Beispiel mit Marianne Werefkin, die selbst Malerin war und mit der ihn eine angeblich rein platonische Freundschaft verband. Dort hinten hängt ein Bild von ihr. Dann gab es Emmy Scheyer, die seine Bilder in Amerika publik machen wollte.«
    Norma hatte den Vorträgen aufmerksam zugehört. »Du spielst auf die ›Blaue Vier‹ an. Jawlensky tat sich in den 20er-Jahren mit Lyonel Feininger, Wassily Kandinsky und Paul Klee zusammen. Sie wollten ihre Bilder in den Vereinigten Staaten auf gemeinsamen Ausstellungen zeigen, die Emmy Scheyer organisieren wollte. Aber hör mal, sprach der Redner nicht von einer Galka Scheyer?«
    »Ursprünglich hieß sie Emmy oder präzise: Emilie Esther. Jawlensky hat ihr den Namen Galka gegeben.«
    »Was bedeutet Galka?«
    Lutz überlegte. Er konnte es nicht leiden, keine Antwort zu wissen. »Etwas Russisches?«
    Norma lachte. »Darauf wäre ich nicht gekommen.«
    Er führte sie zu zwei Gemälden, ›Mystische Köpfe‹, die Emmy Scheyer und Marianne Werefkin zeigten. Es gebe ein wunderschönes Porträt von Lisa Kümmel, berichtete Lutz. In Gelb- und Rottönen gehalten, die Augen, Augenbrauen und den Schwung der Nase mit kräftigen dunklen
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