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Schlehenherz

Schlehenherz

Titel: Schlehenherz
Autoren: Heike Eva Schmidt
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behauptete sie.
    Aber als ich ihr mein Gebäck hinhielt, verschwand mit einem Biss fast ein Viertel der Kornstange zwischen Vios Kiefern.
    »Wie isses heute? Kommst du nach dem Essen zu mir – Hausaufgaben machen und danach draußen chillen?«, fragte ich kauend.
    »Ja, iss du mal schön, ich schau dann später vorbei«, meinte Vio. Obwohl ihre Stimme cool klang, sah sie mich nicht an, sondern starrte auf den Boden.
    Ich schluckte. Arbeitete ihre Mutter also mal wieder bis in die Puppen in der Praxis. Vio tat zwar immer, als fände sie es super, den ganzen Tag sturmfreie Bude zu haben. Nur ich wusste, dass sie mich manchmal um meine Halbtagsjob-Mutter beneidete, auch wenn sie mich mit der »elterlichen Kontrollinstanz« zu Hause aufzog. Ich fand es aber meist ganz schön, mit meiner Mutter nach der Schule quatschen zu können – und ein leckeres Essen auf dem Teller zu haben. Wenn Vio die Haustür aufschloss, wartete nichts als Stille – und die Mikrowelle.
    »He, bevor du dir wieder ’ne Dose Ravioli aufmachst … meine Mutter macht heute Schinkennudeln mit Salat. Komm doch mit, bleibt sowieso immer viel zu viel übrig«, meinte ich betont lässig.
    Vios Mundwinkel hoben sich bis fast zu den Ohren: »Aber nur, wenn’s auch Ketchup gibt.«

    »Guck mal, wie findest du die?«, hörte ich Vio fragen.
    Ich öffnete träge die Augen und blinzelte ins späte Septemberlicht, das in schrägen Strahlen durch feine Schleierwolken fiel. Mein Bauch war voller Schinkennudeln, die Hausaufgaben erledigt, was wollte man mehr? Doch Vio wedelte mit einer Zeitschrift vor meiner Nase herum. Ich sah, dass sie mit Kuli einen Kreis um eine schwarze Hose aus weichem Leder gemalt hatte.
    »Träum weiter!«, murmelte ich.
    Immer kaufte Vio diese Hefte von ihrem spärlichen Taschengeld. Sie war verrückt nach Mode, obwohl das Zeug auf den bunten Seiten für uns beide so unerschwinglich wie ein Luxustrip auf die Malediven war.
    »Wirst schon sehen – sobald ich einen Millionär gefunden hab, laufe ich nur noch in solchen Klamotten rum«, sagte Vio.
    »Und wie willst du den finden – etwa im Internet in einem deiner beknackten Chat-Foren?«, zog ich sie auf.
    Vio hatte ein, zwei Mal versucht, mich für verschiedene Onlineplattformen zu begeistern, aber mich langweilten Facebook und Co. Ich fand, da trieben sich nur Dampfplauderer und aufgeblasene Selbstdarsteller herum. Ich hatte keine Lust, Einträge wie »XY war zwei Stunden joggen und isst heute Abend noch ein rohes Steak« zu lesen. Geschweige denn, darauf zu antworten.
    Vio aber machte sich einen Spaß draus, solche Blender herauszufischen und dann vor allen anderen Forumteilnehmern mit Vio-typischen Sprüchen hochzunehmen. Echte Millionäre trieben sich da sicher nicht herum. Und wenn, würde sie bestimmt Vios spitze Zunge in die Flucht schlagen. Trotzdem konnte ich es nicht lassen, die seltene Gelegenheit zu nutzen, Vio aufzuziehen. »Iiih, du würdest also einen reichen alten Sack heiraten, nur wegen der Klamotten?«, fragte ich.
    »Bist du bescheuert, wer redet vom Heiraten? Ich lass mich adoptieren«, sagte Vio und lachte.
    Ich gähnte und schloss wieder die Augen. Die Herbstsonne wärmte noch richtig doll hier oben auf dem Hochsitz – »unserem« Hochsitz. Verborgen hinter ein paar struppigen Schlehenbüschen und zerzausten Weiden stand der bretterverschlagene Jägersitz, der sich nach vorn zu einer sonnenbeschienenen Lichtung mit weitem Blick über das Murnauer Moor öffnete.
    Niemand wusste von Vios und meinem Geheimplatz. Meine Mutter sah es nicht gern, wenn ich im Wald oder in den Moorwiesen »herumstrolchte«, wie sie sagte. Vor allem, seit vor drei Monaten im Nachbarort ein vierzehnjähriges Mädchen auf dem Heimweg von der Klavierstunde vom Rad gezerrt worden war, als sie einen von Büschen gesäumten Hohlweg entlangfuhr. Der Täter war maskiert und konnte bislang nicht gefasst werden. Die Polizei versuchte zwar, die Sensationsreporter abzuwimmeln, doch die Presse berichtete natürlich über das Verbrechen. Zwar wurde die Identität des Opfers geheim gehalten, trotzdem sickerte durch: Das Mädchen wurde vergewaltigt. Nur war ich ja nicht alleine unterwegs, sondern mit Vio. Und mit ihr an meiner Seite würde mir nichts passieren. Zu zweit waren wir unangreifbar. Und kein Mensch sah uns, wenn wir Stunden hier oben verbrachten. Meistens quatschten wir über die Schule oder über Jungs, manchmal wollte ich aber einfach nur ein bisschen chillen. So wie jetzt. Zwei Minuten
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