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Schlecht aufgelegt (German Edition)

Schlecht aufgelegt (German Edition)

Titel: Schlecht aufgelegt (German Edition)
Autoren: Sven Stricker
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rümpfte die Nase. Seine Jeans entfalteten den charakteristischen Geruch von nassem Hund.
    Paul hatte recht gehabt, die Pestalozzistraße befand sich tatsächlich ganz in der Nähe des Call-Centers. Sie mussten nur in die Grolmanstraße einbiegen, vorbei an all den Cafés, Kneipen und Restaurants, die sich rund um den Savignyplatz gruppierten, und dann die erste Querstraße links nehmen. Der Regen war immer dichter geworden, und die Menschen unter den Regenschirmen wirkten auf Kuli noch mürrischer als sonst. Das war ja eh so etwas, was Kuli mit Berlin assoziierte: eine ganze Stadt voller schlecht gelaunter Menschen. Er hatte natürlich eine Ahnung, dass das nicht die ganze Wahrheit sein konnte, aber wenn es denn irgendwo in irgendeinem Stadtteil einen Hort der guten Laune gab, dann hatte er sich gut getarnt und trat wahrscheinlich nur an besonders sonnigen Tagen an die Öffentlichkeit. Und die waren im Moment selten. Jedenfalls hatten er und Paul sich angeschwiegen und waren am A-Trane vorbeimarschiert, dem besten Jazz-Club der Stadt. Dann weitere Altbauten, Cafés, ein Drogeriemarkt. Bis sie schließlich vor einem für Charlottenburg fast enttäuschend schlichten Altbau standen, gelb verblichene Fassade, grau ummalte Fenster.
    «Hier wohnt sie», hatte Paul gesagt, es waren seine ersten Worte gewesen, seit sie das Call-Center verlassen hatten. Und nun standen sie hier im Flur und warteten und tropften.
    Das Haus zu betreten war einfach gewesen. Auf ihr Klingeln unten hatte Lisa Gerhard nicht reagiert, aber gerade als sie, unschlüssig, wie sie waren, schon wieder verschwinden wollten, hatte sich die Haustür geöffnet, und ein Asiate mit grünen Warmhaltekartons war herausgekommen. «Ling Wai – China, Thai und Vietn. Spez.» stand auf seiner Jacke, und Paul bemerkte zunächst, dass er Hunger hatte, und überlegte dann, ob es denkbar wäre, in Vietnam einen Lieferservice mit deutschen, kroatischen und belgischen Spezialitäten aufzumachen und so zu tun, als sei das alles eins. Der liefernde Asiate hatte ihnen jedenfalls die Tür aufgehalten, sie waren ein paar Stockwerke gestiegen, hatten erneut geklingelt und warteten und tropften weiter. Es tat sich weiterhin nichts.
    Paul verschränkte die Arme vor der Brust. «Das ist doch eine totale Scheißidee, ist das. Wir dürfen das hier doch gar nicht, da gibt’s doch auch Datenschutz und so.»
    Kuli seufzte. «Ich klingle noch mal.» Er streckte die Hand aus.
    «Brauchste nicht», sagte Paul mürrisch. «Die Tür ist offen.»
    «Was?»
    «Offen, sieht man doch. Das Schloss ist nicht eingerastet. Hier.»
    Paul tippte die Wohnungstür an, die mit kleinem Klicken und anschließendem Scharren ein paar Zentimeter weit aufschwang.
    «Warum hast du das denn nicht gleich gesagt?», fragte Kuli und tippte die Tür nun seinerseits an, sodass sie sich noch ein wenig weiter öffnete. Jetzt konnte man schon etwas vom Flur dahinter erahnen, ein feiner Parkettboden glänzte sie an, die Wand war verputzt und in einem gedeckten Grünton gestrichen.
    «Weil das nichts geändert hätte», sagte Paul. «Oder willst du jetzt hier einbrechen? Du kannst da ja nicht einfach reingehen, nur weil die Tür offen ist.»
    «Nein?», fragte Kuli harmlos.
    «Nein!», antwortete Paul bestimmt.
    Kuli tippte die Tür ein weiteres Mal an. Jetzt sah man schon mehrere Zimmer, die von dem scheinbar endlosen Flur abgingen; die Türen waren weiß und strahlten so unbeschmutzt vor sich hin, als wären sie frisch lackiert. An der Garderobe hing ein einzelner grauer Damenmantel, der allerdings ausgesprochen wertvoll aussah und dekorativ platziert war. Sonst sahen sie nichts und niemanden.
    «Siehste. Niemand da. Auf Wiedersehen», sagte Paul und wandte sich zum Gehen. Kuli hielt ihn an der Schulter fest.
    «Jetzt warte doch mal», sagte er. «Hallo?», rief er halbherzig.
    Keine Antwort.
    «Hallo??»
    Keine Antwort.
    «Komm, wir rufen die Bullen. Lass uns abhauen», drängte Paul.
    Aber Kuli konnte sich nicht losreißen.
    «Nee, die Tür ist offen. Das ist doch nicht normal.»
    «Natürlich ist das nicht normal. Deshalb rufen wir ja die Bullen», sagte Paul und zog Kuli am Ärmel. Nicht, dass er Angst gehabt hätte, wovor auch, aber jetzt hier einfach so in die Wohnung einer fremden Frau einzudringen, deren Adresse man sich auf zumindest zweifelhafte Art besorgt und deren Privatleben man gefälligst zu akzeptieren hatte, so wie man ja auch Pauls Privatleben gefälligst zu akzeptieren hatte, das ging ihm einfach
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