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Schlangenlinien

Titel: Schlangenlinien
Autoren: Minette Walters
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schmalen, einstöckigen Reihenhäuser mit jeweils vier Zimmern, zwei oben, zwei unten, zu beiden Seiten der Graham Road, waren in den Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts als Arbeiterwohnungen erbaut worden und lagen unweit der A 316 zwischen Richmond und Mortlake. Keiner, der in dieser Straße ein Haus kaufte, erwartete, über Nacht ein Vermögen zu machen, zumal hier private Eigenheime Wand an Wand mit gemeindeeigenen Häusern für sozial Schwache standen. Diese waren an ihren einheitlich gelben Türen leicht zu erkennen, und diejenigen unter uns, die ihre Häuser käuflich erworben hatten, betrachteten sie mit einem gewissen Widerwillen, weil mindestens zwei von ihnen von Problemfamilien bewohnt waren.
    Meiner Meinung nach spiegelte sich in der Art und Weise, wie die Kinder in unserer Straße mit Annie umgingen, nur allzu deutlich die Einstellung der Erwachsenen. Sie hänselten sie gnadenlos, schrien ihr Schimpfnamen hinterher, äfften, grausam im Gefühl ihrer Überlegenheit, ihren seltsamen hopsenden Gang nach und rannten kreischend davon, wenn es ihnen gelungen war, sie so weit zu reizen, dass sie den Kopf hob und sie zornig ansah. Es war eine Art Bärenhatz. Sie piesackten sie, weil sie sie verachteten, aber sie hatten auch Angst vor ihr.
    Rückblickend wünschte ich natürlich, ich wäre für Annie auf die Barrikaden gegangen, aber wie alle anderen, die untätig zusahen, nahm ich einfach an, sie könnte für sich selbst sorgen. Im Übrigen waren die Kinder nicht die Einzigen, die sie Furcht erregend fanden. Das einzige Mal, als ich einen Versuch machte, mit ihr zu sprechen, fuhr sie zornig auf mich los und nannte mich »honky«, eine verächtliche Bezeichnung der Schwarzen für die Weißen. Ich hatte nicht den Mut, einen neuerlichen Versuch zu wagen. Später fiel mir gelegentlich auf, dass sie draußen auf dem Bürgersteig stand und unser Haus anstarrte, aber jedes Mal lief sie, sobald ich herauskam, eilig davon, und mein Mann ermahnte mich, sie nicht noch mehr in Rage zu bringen. Als ich sagte, meiner Ansicht nach wolle sie sich bei mir entschuldigen, lachte er nur und meinte, ich sei naiv.
    An dem Abend, als sie starb, fiel ein eisiger Regen. Die tief gebeugten Bäume, die die beiden Bürgersteige säumten, waren schwarz und troffen vor Nässe; die Straße wirkte finster und unheimlich, als ich, von der Hauptstraße kommend, in sie einbog. Auf der anderen Seite blieb kurz ein Paar unter einer der wenigen Straßenlaternen stehen, dann trennte es sich, der Mann ging geradeaus weiter, die Frau eilte vor mir quer über die Straße. Ich zog meinen aufgestellten Mantelkragen höher, um den stechenden Regen nicht ins Gesicht zu bekommen, bevor ich auf die Fahrbahn hinuntertrat und durch die herabströmenden Wassermassen zu unserem Haus hinüberrannte.
    Annie lag am Rand des gelben Lichtscheins der Laterne in einer Lücke zwischen zwei geparkten Autos, und ich weiß noch, dass ich mich wunderte, wieso das Paar vorhin sie nicht bemerkt hatte. Aber vielleicht hatten sie sie ja auch bemerkt und ignoriert, weil sie genau wie ich glaubten, sie wäre betrunken. Ich hielt an und rüttelte sie an der Schulter, aber sie schrie auf bei der unsanften Berührung, und ich sprang sofort zurück. Sie hielt ihren Kopf mit beiden Armen umschlungen und hatte die Knie bis zum Kinn hochgezogen, und ich nahm an, sie wollte sich vor dem Regen schützen. Als ich den durchdringenden Uringeruch wahrnahm, vermutete ich, sie hätte einen Unfall gehabt, aber ich schreckte davor zurück, sie zu säubern, und erklärte ihr stattdessen, ich würde nach Hause laufen und den Rettungsdienst anrufen.
    Glaubte sie, ich würde nicht zurückkommen? Senkte sie deshalb die um den Kopf geschlungenen Arme und hob ihren schmerzerfüllten Blick zu mir? Ich habe keine Ahnung, ob das der Moment ihres Todes war – man sagte mir später, wahrscheinlich sei er es gewesen, da sie am Kopf so schwere Verletzungen davongetragen hatte, dass jede Bewegung lebensgefährlich gewesen wäre –, aber ich weiß, dass ich nie wieder eine so intensive Nähe zu einem anderen Menschen spüren werde. Ich fühlte alles, was sie fühlte – Kummer, Angst, Hoffnungslosigkeit, Leiden – und am erschütterndsten die Frage, warum irgendjemand den Wunsch gehabt haben sollte, sie zu töten. War ich denn nicht liebenswert?, schien sie zu fragen. War ich böse? War ich weniger wert, weil ich anders bin?
    Viele Stunden später begann die Polizei an den Worten meines wirren
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