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Schlangenlinien

Titel: Schlangenlinien
Autoren: Minette Walters
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zitieren, verlangte dafür aber einen klaren Hinweis darauf, dass sie für Interviews nicht zur Verfügung stehe. Larry würde das niemals erlauben, sagte sie.
    Im November kam Jock zu einem verlängerten Wochenende und half uns, die Westseite des Dachs zu reparieren. Er und ich schleppten Dachpappe und Schindeln, während Sam rittlings auf dem First hockte und Befehle blaffte. Abends fielen wir erschöpft in die nächststehenden Sessel und bombardierten Sam mit Kissen, bis er sich bereit erklärte, uns Wein zu bringen und das Abendessen zu machen. Ich fragte mich, was ich eigentlich gegen Jock gehabt hatte und wieso ich mir eingebildet hatte, Sam sei unklug in der Wahl seiner Freunde.
    Von Zeit zu Zeit verschwand Jock im Stall, um zusammen mit Danny einen Joint zu rauchen und ihn an seinem Wissen über Geld und Frauen teilhaben zu lassen, was bei Danny zum Glück keinen tieferen Eindruck hinterließ. Und er kaufte Danny die erste Skulptur ab, die dieser auf der Leavenham Farm schuf. Es war eine schöne Arbeit – eine sitzende Frau, deren Kopf auf ihren Knien ruhte. Sie trug den Titel ‘Kontemplation’ und zeigte im Vergleich zu dem Gandhi auf unserer Terrasse einen Riesenfortschritt. Trotzdem hätte ich den Gandhi um nichts hergegeben.
    An seinem ersten Abend bei uns präsentierte uns Jock ein Exemplar der Lokalzeitung von Richmond, das unter der Überschrift ‘Unfall oder Mord?’ einen Artikel über Annies Tod enthielt. Er fragte, ob wir den Bericht schon gesehen hätten, und erstarrte fast vor Ehrfurcht, als Sam lachend sagte, ich hätte ihn geschrieben. Natürlich hatten die Leute von der Zeitung gründlich darin herumgestrichen, aber ich hatte versucht, die Atmosphäre wieder aufleben zu lassen, die im Winter der allgemeinen Unzufriedenheit 1978 in London geherrscht hatte, als ein wahrer Krieg die Gesellschaft zerriss, der schließlich zum dramatischen Sturz der Labour-Regierung führte. Ich fragte, ob anzunehmen sei, dass in einem solchen Klima der Tod einer Schwarzen ordnungsgemäß untersucht worden sei, und berichtete dann von dem Rassenhass, der ungehindert in der Graham Road gewuchert hatte. Ich führte den ganzen Katalog grundloser Beschwerden von »Sozialhilfeschmarotzern« gegen Annie auf, die von den Behörden blind akzeptiert worden waren, und schilderte die niederträchtigen Schikanen, mit denen sie von einer Gruppe gehässiger Menschen verfolgt worden war, die von dem ermittelnden Polizeibeamten, einem Weißen, nie vernommen worden waren. Seinen Namen – Sergeant James Drury – hatte man stehen lassen und ebenso den Zusatz über seine Zwangsversetzung in den Ruhestand wegen grober Körperverletzung gegen einen jungen Asiaten aus rassistischen Motiven. Für mich jedoch war das eigentlich Befriedigende an dem Artikel ein wenig schmeichelhaftes Foto von Maureen Slater, das sie zeigte, wie sie gerade ihre Haustür zuknallte. Darunter stand: »Sozialhilfeempfängerin bestreitet, Hass-Kampagne angezettelt zu haben.«
    Sam musste mir schwören, nicht von Libby zu sprechen. Zu viel Schmerz war mit diesem Thema noch verbunden. Jock war Libby bis zu einem gewissen Grad immer noch gewogen, weil er sich mitschuldig fühlte – Sam hatte aus dem gleichen Grund immer noch ein schlechtes Gewissen ihr gegenüber –, und ich war hin und her gerissen zwischen Genugtuung über meinen Sieg und Traurigkeit über das, was ich im Begriff war, ihren Kindern anzutun. Aber irgendwann im Lauf des Wochenendes setzte sich Sam über das mir gegebene Versprechen hinweg und veranlasste Jock an seinem letzten Abend bei uns, mich auf den neuesten Stand zu bringen.
    Von »gemeinsamen Freunden« berichtete er, habe er gehört, dass Libbys Mann sie hinausgeworfen und eine einstweilige Verfügung erwirkt habe, um ihr den Zugang zu den Kindern zu verweigern. Offenbar war sie dieser Tage so geladen –»zu viele Polizisten, die zu viele Fragen stellen«–, dass sie kurzerhand mit einer Eisenstange auf ihre älteste Tochter losgegangen war. Das Kind war im Krankenhaus gelandet. Hinterher hatten die Mädchen gestanden, dass Schläge an der Tagesordnung gewesen waren, wann immer Libby ein Ventil für ihre Frustrationen gebraucht hatte, und jetzt stand ihr ein Verfahren wegen Kindesmisshandlung und der Verlust ihres Arbeitsplatzes ins Haus.
    Jock sagte, nun zeige sie ihr wahres Gesicht und er würde es mir nicht übel nehmen, wenn ich in Triumphgeheul ausbräche. Sam griff unter dem Tisch nach meiner Hand und hielt sie fest, während
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