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Schlangenlinien

Titel: Schlangenlinien
Autoren: Minette Walters
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England sich unter dem Einfluss des »New Labour«-Programms gewaltig verändert. Streiks waren praktisch unbekannt geworden, das Tempo des täglichen Lebens hatte sich dramatisch verschärft, es herrschte ein neuer, breiter Wohlstand, den es in den Siebzigern nicht gegeben hatte. Wir konnten kaum glauben, wie teuer alles war, wie überfüllt die Straßen waren, wie schwierig es war, heute, da »Shopping« zum bevorzugten Zeitvertreib der Briten geworden war, einen Parkplatz zu finden.
    Unsere Söhne ließen uns sehr schnell im Stich, um sich ihren Altersgenossen anzuschließen. Gartenfeste und dörfliche Cricketturniere, das war etwas für Grufties. Designerklamotten und Technomusik mussten her, Discos und Pubs waren in, besonders solche, die bis in die frühen Morgenstunden geöffnet blieben und ihren Gästen auf Großleinwand Satellitenübertragungen von Sportveranstaltungen aus aller Welt boten.
    »Hast du auch das Gefühl, dass wir überrundet worden sind?«, fragte Sam missmutig, als wir am Ende unserer ersten Woche wie zwei Rentner auf der Terrasse unseres gemieteten Bauernhauses saßen und ein paar Pferde beobachteten, die auf einer Koppel in der Nähe weideten.
    »Von den Jungs?«
    »Nein. Von unserer eigenen Generation. Ich habe heute mit Jock Williams telefoniert«– das war ein alter Freund aus unserer Zeit in Richmond –»und er erzählte mir, er hätte im letzten Jahr mit dem Verkauf einer seiner Firmen zwei Millionen gemacht.« Er zog ein Gesicht. »Daraufhin habe ich gefragt, wie viele Firmen er jetzt noch habe, und er sagte, nur zwei, aber die wären zusammen gut ihre zehn Millionen wert. Als er wissen wollte, was ich denn so treibe, hab ich natürlich gelogen, dass sich die Balken biegen.«
    Ich fragte mich, warum Sam eigentlich nie auf den Gedanken kam, Jock könnte ein Fantast sein – der er ja tatsächlich war –, zumal Jock seit Jahren bei jedem Telefongespräch mit Megageschäften prahlte, es aber nie geschafft hatte, die Zeit – oder das Geld? – locker zu machen, sich ein Flugticket zu kaufen und uns zu besuchen.
    »Was hast du ihm denn erzählt?«
    »Dass wir an der Börse in Hongkong, ehe es an China zurückfiel, einen Riesenreibach gemacht hätten und es uns leisten könnten, ein Rentnerdasein zu führen. Ich hab ihm außerdem vorgeflunkert, wir hätten vor, uns in Dorset ein Vierzigtausend-Quadratmeter-Grundstück mit einem Zehn-Zimmer-Haus darauf zu kaufen.«
    »Aha.« Mit einem Fuß bewegte ich eines der Unkrautbüschel hin und her, die überall in den Sprüngen der Terrassenplatten wucherten, symptomatisch für die traurige Verwahrlosung des ganzen Anwesens. »Wahrscheinlicher wäre wohl ein klitzekleiner Betonkasten in einer Neubausiedlung. Ich hab gestern mal einen Blick ins Schaufenster einer Immobilienfirma geworfen. Alles Feudalere übersteigt bei weitem unsere Mittel. Ein Besitz wie dieser hier würde um die dreihunderttausend kosten, nicht eingerechnet, was wir an Geld brauchen würden, um ihn herzurichten. Da kann man nur hoffen, dass Jock nicht auf die Idee kommt, uns zu besuchen.«
    Sams Missmut vertiefte sich bei dieser Vorstellung. »Wenn wir auch nur einen Funken Verstand gehabt hätten, hätten wir das Haus in der Graham Road behalten. Jock sagt, es ist jetzt das Zehnfache von dem wert, was wir 1976 dafür bezahlt haben. Es war Schwachsinn von uns, es zu verkaufen. Im Immobiliengeschäft muss man immer ein Eisen im Feuer haben, wenn man höher hinauswill.«
    Es gab Zeiten, da verzweifelte ich am Gedächtnis meines Mannes. Es war von einer eigenartigen Selektivität, die ihm erlaubte, sich vergangener Triumphe bis ins kleinste Detail zu erinnern, aber völlig zu vergessen, wo in der Küche das Besteck lag. Diese Eigenart hatte ihre Vorteile – man konnte ihm leicht einreden, dass er sich irrte –, aber manchmal traf sie mich an einem wunden Punkt. Er hätte sich wenigstens der Wochen übelster Belästigung und Hetze erinnern können, die der gerichtlichen Untersuchung über Annies Tod folgten.
    »Es war
meine
Entscheidung, dort wegzugehen«, sagte ich, »und selbst wenn wir in einem Wohnwagen enden, werde ich sie nie bereuen. Du hättest es vielleicht fertig gebracht, in der Graham Road zu bleiben – ich nicht! Nicht mehr jedenfalls, als es mit den Anrufen losging.«
    Er sah mich nervös an. »Ich dachte, das hättest du alles vergessen.«
    »Nein.«
    Die Pferde wurden ohne ersichtlichen Grund plötzlich unruhig und jagten auf die andere Seite der Koppel, und ich
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