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Schlagschatten

Schlagschatten

Titel: Schlagschatten
Autoren: Paul Auster
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bevor er zu einem Ende kommt. Als er das Ergebnis durchliest, muss er zugeben, dass alles genau zu sein scheint. Aber warum fühlt er sich so unzufrieden, so verwirrt durch das, was er geschrieben hat? Er sagt sich: Was geschehen ist, ist nicht wirklich das, was geschehen ist. Zum ersten Mal, seitdem er Berichte schreibt, entdeckt er, dass Wörter nicht notwendigerweise funktionieren, dass sie die Dinge verdunkeln können, die sie zu sagen versuchen. Blue blickt sich im Zimmer um und heftet seine Aufmerksamkeit nacheinander auf verschiedene Objekte. Er sieht die Lampe und sagt vor sich hin: Lampe. Er sieht das Bett und sagt vor sich hin: Bett. Er sieht das Notizbuch und sagt vor sich hin: Notizbuch. Es geht nicht an, die Lampe Bett zu nennen, denkt er, oder das Bett Lampe. Nein, diese Wörter passen genau auf die Dinge, für die sie stehen, und in dem Augenblick, in dem Blue sie ausspricht, fühlt er eine tiefe Befriedigung, als hätte er soeben die Existenz der Welt bewiesen. Dann blickt er über die Straße hinüber und sieht Blacks Fenster. Es ist nun dunkel, und Black schläft. Das ist das Problem, sagt sich Blue und versucht, ein wenig Mut zu finden. Das und sonst nichts. Er ist da, aber es ist unmöglich, ihn zu sehen. Und selbst wenn ich ihn sehe, ist es, als wären die Lichter aus.
    Er steckt seinen Bericht in einen Umschlag und geht hinaus. An der Straßenecke wirft er ihn in den Briefkasten. Ich bin vielleicht nicht der klügste Mensch der Welt, sagt er sich, aber ich tue mein Bestes, ich tue mein Bestes.
    Der Schnee beginnt zu schmelzen. Am nächsten Morgen scheint die Sonne hell, Schwärme von Spatzen tschilpen in den Bäumen, und Blue kann das angenehme Tropfen des Wassers von der Dachkante, den Zweigen, den Laternenpfählen hören. Der Frühling scheint plötzlich nicht mehr weit zu sein. Noch ein paar Wochen, sagt er sich, und jeder Morgen wird wie dieser sein.
    Black nutzt das Wetter aus, um einen weiteren Spaziergang zu machen als je zuvor, und Blue folgt ihm. Blue ist erleichtert, sich wieder bewegen zu können, und als Black immer weiter läuft, hofft Blue, dass die Wanderung lange genug dauern wird, damit er seine steifen Glieder lockern kann. Er ist immer ein begeisterter Geher gewesen, und das Gefühl, wie seine Beine in der Morgenluft ausschreiten, erfüllt ihn mit Glück. Während sie durch die engen Straßen von Brooklyn Heights gehen, fasst Blue Mut, als er sieht, dass sich Black immer weiter von zu Hause entfernt. Aber dann verdüstert sich seine Stimmung plötzlich. Black geht die Treppe hinauf, die zum Fußgängersteg über die Brooklyn-Brücke führt, und Blue kommt auf die Idee, dass er springen will. So etwas kommt vor, sagt er sich. Ein Mann geht auf die Brücke, wirft durch den Wind und die Wolken einen letzten Blick auf die Welt und springt hinunter ins Wasser, die Knochen krachen beim Aufschlag, der Körper bricht auseinander. Blue würgt es bei dieser Vorstellung, er sagt sich, dass er aufpassen muss. Wenn irgendetwas geschieht, beschließt er, wird er seine Rolle als neutraler Zuschauer aufgeben und einschreiten. Denn er will nicht, dass Black tot ist – zumindest noch nicht.
    Es ist viele Jahre her, dass Blue die Brooklyn-Brücke zu Fuß überquerte. Das letzte Mal ging er als Junge mit seinem Vater, und die Erinnerung an diesen Tag kehrt nun zu ihm zurück. Er sieht sich, wie er die Hand seines Vaters hielt und neben ihm herging, und er hört den Verkehr unten auf der stählernen Brückenstraße, er erinnert sich, dass er zu seinem Vater sagte, das Geräusch klinge wie das Summen eines riesigen Bienenschwarms. Zu seiner Linken sieht er die Freiheitsstatue, zu seiner Rechten Manhattan, die Gebäude ragen in der Morgensonne so hoch auf, dass sie reine Einbildung zu sein scheinen. Sein Vater wusste viel, und er erzählte Blue die Geschichte von allen Monumenten und Wolkenkratzern, lange Litaneien von Einzelheiten – die Architekten, die Daten, die politischen Intrigen – und dass die Brooklyn-Brücke einmal das größte Bauwerk in Amerika war. Der Alte war in demselben Jahr geboren worden, in dem die Brücke vollendet worden war, und Blue denkt immer an diese Verbindung, so als wäre die Brücke ein Monument zu Ehren seines Vaters. Er mag die Geschichte, die ihm an dem Tag erzählt wurde, an dem er und Blue senior über dieselben Bohlen nach Hause gingen, über die er jetzt geht, und aus irgendeinem Grunde hat er sie nie vergessen. Wie John Roebling, dem Konstrukteur der
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