Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schlagschatten

Schlagschatten

Titel: Schlagschatten
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
Vater könnte da sein, mit ihm über den Fluss gehen und ihm Geschichten erzählen. Dann wird ihm plötzlich bewusst, was in seinem Geist vorgeht, er fragt sich, warum er so sentimental geworden ist, warum ihm alle diese Erinnerungen kommen, nachdem sie ihm so viele Jahre niemals eingefallen sind. Es gehört alles dazu, denkt er, verlegen, weil er so ist. So geht es einem, wenn man niemanden hat, mit dem man sprechen kann.
    Am Ende der Brücke weiß er, dass er in Bezug auf Black Unrecht hatte. Es gibt heute keine Selbstmorde, keine Stürze von Brücken, keine Sprünge ins Unbekannte. Denn da geht sein Mann so munter und unbekümmert, wie man nur sein kann, die Treppe des Fußgängerstegs hinunter und die Straße entlang, die einen Bogen um das Rathaus macht, dann setzt er seinen Weg durch die Centre Street nach Norden fort, am Gericht und anderen städtischen Gebäuden vorbei, und ohne seinen Schritt zu verlangsamen, läuft er durch Chinatown und noch weiter. Dieser Streifzug dauert mehrere Stunden, und nie hat Blue das Gefühl, dass Black irgendein Ziel verfolgt. Er scheint vielmehr seine Lungen auszulüften, zu gehen um des reinen Vergnügens willen, und als die Wanderung kein Ende nimmt, gesteht sich Blue zum ersten Mal ein, dass er eine gewisse Zuneigung zu Black entwickelt.
    Einmal betritt Black eine Buchhandlung, und Blue folgt ihm. Black schmökert etwa eine halbe Stunde und sammelt dabei einen kleinen Stapel von Büchern, und Blue, der nichts Besseres zu tun hat, blättert ebenfalls in Büchern und versucht während der ganzen Zeit, sein Gesicht vor Black zu verbergen. Die kurzen Blicke, die er riskiert, wenn Black wegzusehen scheint, vermitteln ihm den Eindruck, ihn schon früher einmal gesehen zu haben, aber er kann sich nicht erinnern, wo. Es ist etwas um die Augen, sagt er sich, aber weiter kommt er nicht. Er will nicht auf sich aufmerksam machen, und er ist nicht wirklich sicher, ob etwas daran ist.
    Eine Minute später stößt Blue auf ein Exemplar Walden von Henry David Thoreau. Als er es aufschlägt, entdeckt er zu seiner Überraschung, dass der Name des Verlegers Black ist: »Veröffentlicht für den Classics Club von Walter J. Black, Inc. Copyright 1942.« Diese Übereinstimmung schockiert Blue im ersten Moment. Er denkt, dass darin vielleicht eine Botschaft für ihn verborgen ist, ein Schimmer von Bedeutung, der etwas an der Sache ändern könnte. Aber dann, als er sich von seinem kleinen Schock erholt hat, überlegt er, dass das eher unwahrscheinlich ist. Der Name ist häufig genug, sagt er sich – und außerdem weiß er sicher, dass Blacks Vorname nicht Walter ist. Es könnte allerdings ein Verwandter sein, fügt er hinzu, oder vielleicht sogar sein Vater. Während er noch über diesen letzten Punkt nachdenkt, beschließt Blue, das Buch zu kaufen. Wenn er schon nicht lesen kann, was Black schreibt, so kann er zumindest lesen, was er liest. Viel wird es nicht bringen, sagt er sich, aber wer weiß, ob er nicht einen Hinweis darauf finden wird, was der Mann vorhat.
    So weit, so gut. Black zahlt für seine Bücher, Blue zahlt für sein Buch, und die Wanderung geht weiter. Blue wartet noch immer auf ein Zeichen, auf einen Anhaltspunkt, der ihn zu Blacks Geheimnis führt. Aber er ist ein zu ehrlicher Mann, um sich selbst etwas vorzumachen, und er weiß, dass kein Sinn und Verstand in dem zu entdecken ist, was bisher geschah. Dieses eine Mal ist er deshalb nicht entmutigt. Tatsächlich bemerkt er, als er tiefer in sich hineinhorcht, dass er sich im Ganzen eher gekräftigt fühlt. Es ist etwas Schönes daran, im Dunkeln zu sein, entdeckt er, es ist erregend, nicht zu wissen, was als Nächstes geschehen wird. Es hält einen wach, denkt er, und das kann nicht schaden, oder? Hellwach und auf Draht, alles aufnehmend, für alles bereit.
    Kurz nachdem er diesen Gedanken nachhing, wird ihm endlich eine neue Entwicklung geboten, und der Fall nimmt seine erste Wendung. In der Stadtmitte biegt Black um eine Ecke, geht den halben Häuserblock entlang, zögert kurz, als suche er eine Adresse, macht ein paar Schritte zurück, geht wieder vorwärts und betritt einen Moment später ein Restaurant. Blue folgt ihm und denkt sich nicht viel dabei, denn es ist schließlich Mittag, und man muss etwas essen. Blacks Zögern scheint darauf hinzuweisen, dass er noch nie hier gewesen ist, was wiederum bedeuten kann, dass Black eine Verabredung hat. Der Raum ist dunkel, ziemlich voll, eine Gruppe von Menschen schart sich vorn
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher