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Schlagschatten

Schlagschatten

Titel: Schlagschatten
Autoren: Paul Auster
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Brücke, wenige Tage nach Fertigstellung der Pläne ein Fuß zwischen den Dockpfählen und einem Fährboot zerquetscht wurde und er in weniger als drei Wochen an einem Gangrän starb. Er hätte nicht sterben müssen, sagte Blues Vater, aber die einzige Behandlung, die er gelten ließ, war die Hydrotherapie, und die erwies sich als nutzlos, und Blue fand es seltsam, dass ein Mann, der sein Leben damit verbracht hatte, Brücken über Gewässer zu bauen, damit die Menschen nicht nass wurden, glauben konnte, die einzige wahre Medizin bestünde darin, sich in Wasser einzutauchen. Nach John Roeblings Tod übernahm sein Sohn Washington die Stelle des Chefingenieurs, und das war auch eine merkwürdige Geschichte. Washington Roebling war damals erst eindunddreißig und hatte, abgesehen von den Holzbrücken, die er während des Bürgerkriegs gebaut hatte, keine Erfahrung, aber er war noch begabter als sein Vater. Nicht lange nachdem mit dem Bau der Brooklyn-Brücke begonnen worden war, war er während eines Brandes mehrere Stunden in einem der Unterwasser-Caissons eingeschlossen und zog sich einen schweren Fall von Caissonkrankheit zu, einem qualvollen Leiden, bei dem sich Stickstoffbläschen im Blutstrom sammeln. Der Anfall tötete ihn beinahe, und er war danach ein Invalide, unfähig, das Zimmer im obersten Stockwerk eines Hauses in Brooklyn Heights zu verlassen, in dem er und seine Frau sich eingerichtet hatten. Dort saß Washington Roebling viele Jahre lang jeden Tag und beobachtete den Fortschritt der Brücke durch ein Fernrohr. Jeden Morgen schickte er seine Frau mit seinen Anweisungen hinunter, und er zeichnete kunstvolle Farbbilder für die ausländischen Arbeiter, die nicht Englisch sprachen, damit sie verstanden, was sie als Nächstes zu tun hatten. Und das Bemerkenswerte war, dass er die ganze Brücke buchstäblich im Kopf hatte: Jedes Teil hatte er auswendig gelernt bis hinunter zu den winzigsten Stückchen Stahl und Stein, und obwohl Washington Roebling nie den Fuß auf die Brücke setzte, war sie in ihm vollständig gegenwärtig, so als wäre sie am Ende all dieser Jahre irgendwie in seinen Körper hineingewachsen. Blue denkt nun daran, während er über den Fluss geht und Black vor ihm beobachtet und sich an seinen Vater und seine Kindheit draußen in Gravesend erinnert. Der Alte war Polizist, später Detektiv im 77. Bezirk, und das Leben hätte gut sein können, denkt Blue, wenn nicht der Fall Russo gewesen wäre und die Kugel, die 1927 durch das Gehirn seines Vaters schlug. Vor zwanzig Jahren, sagt er zu sich selbst, plötzlich erschrocken über die Zeit, die vergangen ist, und er fragt sich, ob es einen Himmel gibt, und wenn ja, ob er seinen Vater wieder sehen wird. Er erinnert sich an eine Geschichte aus einem der endlosen Magazine, die er diese Woche gelesen hat, einer neuen Monatsschrift mit dem Titel Seltsamer als Dichtung, und das scheint eine Folge all der anderen Gedanken zu sein, die ihm gerade gekommen sind. Irgendwo in den französischen Alpen, erinnert er sich, wurde ein Mann vor zwanzig oder fünfundzwanzig Jahren beim Skilaufen von einer Lawine verschüttet, und seine Leiche wurde nie geborgen. Sein Sohn, der damals ein kleiner Junge war, wuchs auf und wurde ebenfalls Skiläufer. Eines Tages im vorigen Jahr ging er Ski laufen; ohne es zu wissen, war er nicht weit von der Stelle, an der sein Vater umgekommen war. Durch die ständigen kleinen Verschiebungen des Eises im Laufe der Jahrzehnte sah das Gelände nun ganz anders aus als früher. Ganz allein da oben in den Bergen, weit von irgendeinem anderen menschlichen Wesen entfernt, stieß der Sohn auf einen Körper im Eis – eine Leiche, völlig unversehrt, wie im Scheintod. Selbstverständlich blieb der junge Mann stehen, um sie zu untersuchen, und als er sich bückte und der Leiche ins Gesicht sah, hatte er den deutlichen und erschreckenden Eindruck, sich selbst zu betrachten. Vor Angst zitternd, wie es in dem Artikel hieß, sah er sich die Leiche, die gleichsam im Eis versiegelt war, genauer an, wie jemanden auf der anderen Seite eines dicken Fensters, und er erkannte seinen Vater. Der Tote war noch jung, jünger als sein Sohn jetzt war, und es hatte, fand Blue, etwas Furchteinflößendes, etwas so Seltsames und Schreckliches, älter zu sein als der eigene Vater, dass er tatsächlich die Tränen zurückhalten musste, als er den Artikel las. Nun, als Blue sich dem Ende der Brücke nähert, kehren diese Gefühle zurück, und er wünscht, sein
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