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Schlagschatten

Schlagschatten

Titel: Schlagschatten
Autoren: Paul Auster
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Black auf der anderen Straßenseite beobachtet, ist es, als blicke Blue in einen Spiegel, und anstatt nur einen anderen zu beobachten, findet er, dass er auch sich selbst beobachtet. Das Leben hat sich für ihn so drastisch verlangsamt, dass Blue nun imstande ist, Dinge zu sehen, die früher seiner Aufmerksamkeit entgangen sind. Die Bahn, die das Licht jeden Tag durch sein Zimmer beschreibt, zum Beispiel, und die Art, wie die Sonne zu gewissen Stunden den Schnee am hinteren Ende der Zimmerdecke reflektiert. Der Schlag seines Herzens, das Geräusch seines Atems, das Blinzeln seiner Lider – Blue nimmt nun diese winzigen Ereignisse bewusst auf, und so sehr er versucht, sie zu ignorieren, sie verharren in seinem Geist wie ein unsinniger Satz, der immer und immer wieder wiederholt wird. Er weiß, es kann nicht wahr sein, und doch scheint dieser Satz nach und nach eine Bedeutung anzunehmen.
    Über Black, über White, über die Arbeit, für die er engagiert wurde, beginnt Blue nun gewisse Theorien aufzustellen. Er entdeckt, dass das Erfinden von Geschichten nicht nur hilft, die Zeit zu vertreiben, sondern für sich selbst ein Vergnügen sein kann. Er stellt sich vor, dass White und Black vielleicht Brüder sind und dass eine große Geldsumme auf dem Spiel steht – eine Erbschaft, zum Beispiel, oder das in einer Partnerschaft investierte Kapital. Vielleicht will White beweisen, dass Black unzurechnungsfähig ist, und ihn in eine Anstalt einweisen lassen, um das Familienvermögen an sich zu bringen. Aber Black ist zu schlau dafür und versteckt sich und wartet, bis der Druck nachlässt. Nach einer anderen Theorie, die Blue entwickelt, sind White und Black Rivalen, die beide dasselbe Ziel verfolgen – die Lösung eines wissenschaftlichen Problems, zum Beispiel –, und White will, dass Black beobachtet wird, um sicher zu gehen, dass er nicht überlistet wird. Oder White ist ein abtrünniger Agent des FBI oder einer, vielleicht ausländischen, Spionageorganisation und hat sich selbständig gemacht, um eine Untersuchung durchzuführen, die nicht notwendigerweise von seinen Vorgesetzten gebilligt wird. Indem er Blue damit beauftragt, die Arbeit für ihn zu erledigen, kann er die Überwachung Blacks geheim halten und gleichzeitig weiter seinen normalen Pflichten nachkommen. Tag für Tag wird die Liste dieser Geschichten länger, und Blue kehrt manchmal im Geiste zu einer früheren Geschichte zurück, um gewisse Schnörkel und Details hinzuzufügen, oder er beginnt mit etwas Neuem. Mit Mordplänen, zum Beispiel, und Entführungen mit riesigen Lösegeldern. Während die Tage verstreichen, begreift Blue, dass die Geschichten, die er erzählen kann, ins Endlose gehen. Denn Black ist nicht mehr als eine Art von Leere, ein Loch im Gewebe der Dinge, und eine Geschichte kann dieses Loch ebenso gut ausfüllen wie eine andere.
    Blue macht sich jedoch nichts vor. Er weiß, dass er mehr als alles andere die wirkliche Geschichte erfahren möchte. Aber in diesem frühen Stadium weiß er auch, dass Geduld vonnöten ist. Deshalb beginnt er allmählich, sich zu vergraben, und mit jedem Tag fühlt er sich ein wenig behaglicher in seiner Situation und ein wenig mehr mit der Tatsache versöhnt, dass er sich auf einen langen Fischzug eingelassen hat.
    Unglücklicherweise stören Gedanken an die zukünftige Mrs. Blue gelegentlich seine zunehmende Seelenruhe. Blue vermisst sie mehr denn je, aber irgendwie fühlt er auch, dass es nie wieder so sein wird, wie es war. Woher dieses Gefühl kommt, vermag er nicht zu sagen. Aber während er recht zufrieden ist, wenn er seine Gedanken auf Black, auf sein Zimmer, auf den Fall, an dem er arbeitet, konzentriert, wird er von einer Art Panik ergriffen, sobald die zukünftige Mrs. Blue in sein Bewusstsein tritt. Plötzlich verwandelt sich seine Ruhe in Angst, und ihm ist zumute, als fiele er in irgendeinen dunklen, höhlenartigen Ort, ohne Hoffnung, einen Ausweg zu finden. Beinahe jeden Tag ist er versucht, den Hörer abzuheben und sie anzurufen, weil er denkt, dass ein Moment wirklichen Kontakts vielleicht den Zauber brechen würde. Aber die Tage gehen vorüber, und er ruft nicht an. Auch das beunruhigt ihn, denn er kann sich nicht an eine Zeit in seinem Leben erinnern, in der er sich so sträubte etwas zu tun, was er eindeutig will. Ich verändere mich, sagt er sich. Nach und nach bin ich nicht mehr derselbe. Diese Deutung beruhigt ihn etwas, wenigstens für eine Weile, aber zuletzt bewirkt sie nur, dass er
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