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Schlagschatten

Schlagschatten

Titel: Schlagschatten
Autoren: Paul Auster
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Jeden Morgen, ungefähr eine Stunde, bevor die Post zugestellt wird, pflanzt er sich am Fenster auf und wartet darauf, dass der Briefträger um die Ecke kommt, und er setzt all seine Hoffnungen auf das, was Brown ihm raten wird. Was er von diesem Brief erwartet, ist nicht gewiss. Blue stellt sich die Frage nicht einmal, aber sicherlich werden es einige ungeheure, erhellende und außergewöhnliche Worte sein, die ihn in die Welt der Lebenden zurückbringen werden.
    Als die Tage und Wochen ohne einen Brief von Brown vergehen, wird Blues Enttäuschung zu einer schmerzenden, irrationalen Verzweiflung. Aber das ist noch nichts, verglichen mit dem, was er fühlt, als der Brief endlich kommt. Denn Brown geht gar nicht auf das ein, was Blue geschrieben hat. Es ist schön, von dir zu hören, beginnt der Brief, und schön zu wissen, dass du so hart arbeitest. Klingt wie ein interessanter Fall. Kann allerdings nicht behaupten, dass ich dergleichen vermisse. Hier führe ich ein angenehmes Leben – stehe früh auf und gehe angeln, verbringe eine Weile mit meiner Frau, lese ein wenig, schlafe in der Sonne; nichts, worüber ich mich beklagen könnte. Das Einzige, was ich nicht verstehe, ist, warum ich nicht schon vor Jahren hierher gezogen bin.
    In diesem Stil geht der Brief mehrere Seiten lang weiter, und nicht ein einziges Mal berührt er den Grund von Blues Qualen und Ängsten. Blue sieht sich von dem Mann verraten, der einmal wie ein Vater zu ihm war, und als er den Brief zu Ende gelesen hat, fühlt er sich leer und völlig aus der Fassung gebracht. Ich bin auf mich allein gestellt, denkt er, es gibt niemanden mehr, an den ich mich wenden kann. Mehrere Stunden lang verfällt er in Mutlosigkeit und Selbstmitleid und denkt ein- oder zweimal, dass es besser wäre, tot zu sein. Aber schließlich überwindet er seine düstere Stimmung. Denn Blue ist eigentlich ein ausgeglichener Mensch und neigt weniger zu finsteren Gedanken als die meisten, und wer sind wir, dass wir ihm Vorwürfe machen dürften, wenn ihn manchmal der Weltschmerz überkommt? Als es Zeit fürs Abendessen wird, hat er sogar schon angefangen, die guten Seiten zu sehen. Das ist vielleicht sein größtes Talent: nicht, dass er nicht verzweifelt, sondern dass er nie sehr lange verzweifelt ist. Letzten Endes ist es vielleicht in Ordnung so, sagt er sich. Es ist vielleicht besser, allein zu sein, als von einem anderen abzuhängen. Blue denkt eine Weile darüber nach und entscheidet, dass es einiges für sich hat. Er ist kein Lehrling mehr. Es gibt keinen Meister mehr über ihm. Ich bin mein eigener Herr, sagt er sich. Ich bin mein eigener Herr und schulde niemandem Rechenschaft außer mir selbst.
    Angeregt und erfüllt von dieser neuen Erkenntnis stellt er fest, dass er endlich den Mut hat, mit der zukünftigen Mrs. Blue Verbindung aufzunehmen. Als er aber den Hörer abhebt und ihre Nummer wählt, meldet sich niemand. Er ist enttäuscht, aber bleibt ungerührt. Ich werde es ein andermal wieder versuchen, sagt er. Bald einmal.
    Und weiter vergehen die Tage. Wieder nimmt er mit Black den gleichen Schritt auf, vielleicht noch harmonischer als zuvor. Dabei entdeckt er das Paradoxe der Situation. Denn je näher er sich Black fühlt, desto weniger hält er es für nötig, an ihn zu denken. Mit anderen Worten, je tiefer er sich verstrickt, umso freier ist er. Was ihn bedrückt, ist nicht Teilnahme, sondern Trennung. Denn nur wenn Black sich von ihm zu lösen scheint, muss er ausgehen und ihn suchen, und das kostet Zeit und Mühe, um nicht zu sagen Kampf. In den Phasen jedoch, in denen er sich Black ganz nah fühlt, kann er beginnen, so etwas wie ein unabhängiges Leben zu fuhren. Zuerst ist das, was er sich gestattet, nicht sehr gewagt, aber trotzdem betrachtet er es als eine Art Triumph, beinahe als einen Akt der Tapferkeit. Zum Beispiel das Haus zu verlassen und den Block auf und ab zu gehen. So klein sie sein mag, erfüllt ihn diese Geste doch mit Glück, und während er in dem schönen Frühlingswetter in der Orange Street hin und her geht, ist er auf eine Weise, die er seit Jahren nicht mehr empfunden hat, froh, am Leben zu sein. Von dem einen Ende aus hat man einen Blick auf den Fluss, den Hafen, die Silhouette von Manhattan, die Brücken. Blue findet das alles schön, und an manchen Tagen erlaubt er sich sogar, einige Minuten auf einer der Bänke zu sitzen und auf die Boote hinauszuschauen. Am anderen Ende steht die Kirche, und manchmal geht Blue zu dem kleinen
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