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Schlagschatten

Schlagschatten

Titel: Schlagschatten
Autoren: Paul Auster
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sehr. Gold weigert sich, eine Welt zu akzeptieren, in der der Mörder eines Kindes ungestraft davonkommt, auch wenn der Mörder selbst nun tot ist, und er ist bereit, sein eigenes Leben, sein eigenes Glück zu opfern, um das Unrecht wieder gutzumachen. Blue denkt eine Weile über den Jungen nach, er versucht, sich vorzustellen, was wirklich geschah, er versucht zu fühlen, was der Junge gefühlt haben mag, und dann dämmert ihm, dass der Mörder der Vater oder die Mutter gewesen sein muss, sonst hätte man den Jungen als vermisst gemeldet. Das macht es nur noch schlimmer, sagt sich Blue, und als ihm beim Gedanken daran übel wird und er nun voll versteht, wie Gold die ganze Zeit zumute gewesen sein muss, wird ihm bewusst, dass er vor fünfundzwanzig Jahren auch ein kleiner Junge war und dass der Junge, wäre er am Leben geblieben, jetzt so alt sein müsste wie er. Ich hätte es auch sein können, denkt Blue. Ich hätte dieser kleine Junge sein können. Da er nicht weiß, was er sonst tun soll, schneidet er das Bild aus dem Magazin und heftet es mit einem Reißnagel an die Wand über seinem Bett.
    So vergehen die ersten Tage. Blue beobachtet Black, und es geschieht so gut wie nichts. Black schreibt, liest, isst, macht kurze Spaziergänge in der Nachbarschaft und scheint nicht zu bemerken, dass Blue da ist. Was Blue anbetrifft, so versucht er, sich keine Sorgen zu machen. Er nimmt an, dass sich Black still verhält und abwartet, bis der richtige Augenblick gekommen ist. Da Blue nur ein einzelner Mann ist, wird ihm klar, dass ständige Wachsamkeit nicht von ihm erwartet werden kann. Schließlich ist es nicht möglich, jemanden vierundzwanzig Stunden am Tag zu beobachten. Man muss Zeit haben zu schlafen, zu essen, sich um die Wäsche zu kümmern und so weiter. Wenn White gewollt hätte, dass Black rund um die Uhr beobachtet wird, würde er zwei oder drei Männer angestellt haben, nicht einen. Aber Blue ist nur einer, und mehr als das Mögliche kann er nicht tun.
    Dennoch beginnt er, trotz allem, was er sich sagt, besorgt zu sein. Denn wenn Black beobachtet werden muss, heißt das, dass er jede Stunde eines jeden Tages beobachtet werden muss. Alles, was weniger ist als eine ständige Überwachung, wäre so gut wie gar keine Überwachung. Es braucht nicht viel, überlegt Blue, und das ganze Bild ändert sich. Ein einziger Augenblick der Unaufmerksamkeit – ein Blick zur Seite, eine Pause, um sich den Kopf zu kratzen, ein bloßes Gähnen –, und schon ist Black auf und davon und begeht die Schandtat, die er im Schilde führt, was immer es sein mag. Und doch wird es notwendigerweise solche Augenblicke geben, Hunderte, ja Tausende jeden Tag. Blue findet das beunruhigend, denn sooft er sich dieses Problem auch durch den Kopf gehen lässt, er kommt seiner Lösung nicht näher. Aber das ist nicht das Einzige, was ihn beunruhigt. Blue ist es nicht gewohnt still zu sitzen, und durch diese neue Untätigkeit fühlt er sich irgendwie verloren. Zum ersten Mal in seinem Leben stellt er fest, dass er ganz auf sich selbst angewiesen ist, ohne etwas, was er mit Händen fassen kann, was einen Augenblick vom nächsten unterscheidet. Er hat über die Welt in seinem Inneren nie viel nachgedacht, und obwohl er immer wusste, dass sie da war, blieb sie eine unbekannte Größe, unerforscht und daher dunkel, sogar für ihn selbst. Er hat sich rasch über die Oberflächen der Dinge hinwegbewegt und hat, solange er sich erinnern kann, seine Aufmerksamkeit nur diesen Oberflächen zugewandt, die eine wahrnehmend und dann zur nächsten übergehend, und er hat immer Freude an der Welt als solcher empfunden und von den Dingen nicht mehr verlangt, als dass sie da sind. Und bis jetzt sind sie da gewesen, mit lebhaften Konturen im Tageslicht, sie haben ihm deutlich gesagt, was sie sind, und waren so vollkommen sie selbst und nichts sonst, dass er nie vor ihnen Halt zu machen oder zweimal hinzusehen brauchte. Nun plötzlich, da ihm die Welt gleichsam entrückt ist und er nicht viel mehr zu sehen hat als einen undeutlichen Schatten namens Black, denkt er an Dinge, die ihm nie zuvor eingefallen sind, und auch das beginnt ihn zu beunruhigen. Wenn denken hier vielleicht ein zu starkes Wort ist, so wäre ein etwas bescheidenerer Ausdruck – nachsinnen oder spekulieren zum Beispiel – nicht ganz fehl am Platz. Spekulieren vom lateinischen speculor, was ich spähe aus, ich beobachte heißt und mit dem Wort speculum, Spiegel, zusammenhängt. Denn während er
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