Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Schlaflos - Insomnia

Titel: Schlaflos - Insomnia
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
gewissenhafte
Vogelbeobachter zog verächtlich die Mundwinkel nach unten und dachte: Ich hoffe, ich sterbe, bevor ich so alt werde. Wirklich. Dann drehte er sich wieder zu dem Vogelbad um und setzte seine Notizen fort.
    Tief im Inneren seines Kopfes kam unvermittelt dieses verkrampfte Gefühl wieder - das Blinzeln -, und obwohl Ralph sich nicht von der Bank fortbewegte, spürte er doch, wie er rapide in die Höhe getragen wurde … schneller und höher als jemals zuvor.
    Ganz und gar nicht, sagte die Stimme. Einmal warst du viel höher als jetzt, Ralph - und Lois auch. Aber dort kommst du wieder hin. Bald wirst du bereit dafür sein.
    Der Vogelbeobachter, der, ohne es zu wissen, inmitten einer prachtvollen Aura aus gesponnenem Gold lebte, sah sich verstohlen um - möglicherweise wollte er sich vergewissern, dass sich der senile alte Mann auf der Bank da oben auf dem Hügel nicht mit einem stumpfen Gegenstand an ihn heranschlich. Der Anblick, der sich ihm bot, sorgte dafür, dass sich die verkrampfte, verbissene Linie seines Mundes vor Verwunderung entspannte. Er riss die Augen auf. Ralph erblickte plötzlich kreisende, indigoblaue Speichen in der Aura des gewissenhaften Vogelbeobachters und wusste, dass er einen Mann vor sich sah, der gerade einen Schock erlitten hatte.
    Was ist los mit ihm? Was sieht er?
    Aber das stimmte nicht. Der Schock rührte nicht von dem, was der Vogelbeobachter sah, sondern was er nicht sah. Er sah Ralph nicht mehr, denn Ralph war so weit aufgestiegen, dass er aus dieser Ebene verschwunden war - er war zum visuellen Gegenstück des Tons einer Hundepfeife geworden.

    Wenn sie jetzt hier wären, könnte ich sie mühelos sehen.
    Wer, Ralph? Wenn wer hier wäre?
    Klotho. Lachesis. Und Atropos.
    Plötzlich fügten sich die Teile wie im Flug in seinem Geist zusammen, wie die Stücke eines Puzzles, das viel komplizierter aussah, als es in Wirklichkeit war.
    Ralph, flüsternd: [»O mein Gott. O mein Gott. O mein Gott.«]

14
    Sechs Tage später erwachte Ralph um Viertel nach drei Uhr morgens und wusste, dass der Zeitpunkt des Versprechens gekommen war.

15
    »Ich glaube, ich gehe zum Red Apple, mir ein Eis holen«, sagte Ralph. Es war fast zehn Uhr. Sein Herz schlug viel zu schnell, und seine Gedanken waren unter dem konstanten weißen Rauschen der Todesangst, die er jetzt verspürte, kaum zu finden. Ihm war in seinem ganzen Leben noch nie weniger nach Eis zumute gewesen, aber es war eine einleuchtende Ausrede für einen Spaziergang zum Red Apple; man schrieb die erste Augustwoche, der Wetterbericht hatte gesagt, dass die Quecksilbersäule am frühen Nachmittag wahrscheinlich über zweiunddreißig steigen und am frühen Abend Gewitter aufziehen würden.
    Ralph glaubte, dass er sich wegen des Gewitters keine Sorgen mehr zu machen brauchte.

    Neben der Küchentür stand ein Bücherregal auf Zeitungen. Lois hatte es scheunentorrot gestrichen. Jetzt stand sie auf, stemmte die Hände unten in den Rücken und streckte sich. Ralph konnte das leise Knacken der Wirbelsäule hören. »Ich komme mit dir. Wenn ich nicht eine Weile von der Farbe wegkomme, werde ich heute Nacht Kopfschmerzen haben. Ich weiß sowieso nicht, warum ich an so einem schwülen Tag etwas anstreichen wollte.«
    Das Allerletzte, was Ralph sich wünschte, war von Lois zum Red Apple begleitet zu werden. »Das musst du nicht, Liebling; ich bringe dir ein Kokoseis am Stiel mit, das du so magst. Ich wollte nicht mal Rosalie mitnehmen, weil es so schwül ist. Warum setzt du dich nicht hinten auf die Veranda?«
    »Jedes Eis, das du an so einem Tag bis hierher trägst, ist wahrscheinlich vom Stiel gefallen, noch bevor du ankommst«, sagte sie. »Komm schon, gehen wir, solange noch Schatten auf dieser Seite der …«
    Sie verstummte. Das verhaltene Lächeln verschwand von ihrem Gesicht. Es wich einem bestürzten Ausdruck, und das Grau ihrer Aura, das in den Jahren, als Ralph es nicht sehen konnte, nur ein bisschen dunkler geworden war, erstrahlte nun mit Scharen rötlich-rosafarbener Fünkchen.
    »Ralph, was ist los? Was hast du wirklich vor?«
    »Nichts«, sagte er, aber die Narbe in seinem Arm glühte, und das Ticken der Todesuhr war überall, laut und allgegenwärtig. Es sagte ihm, dass er eine Verabredung einhalten musste. Ein Versprechen .
    »O doch, mit dir stimmt etwas nicht, und es geht schon seit zwei oder drei Monaten so, vielleicht länger. Ich bin
eine dumme Frau - ich hab gewusst, dass etwas in der Luft lag, hab es aber nicht
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher