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Schlaflos - Insomnia

Titel: Schlaflos - Insomnia
Autoren: Stephen King
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blickten strahlend und lebhaft.
    »Ralph?«
    »Ja.« Seine Stimme klang deutlich und kräftig, weder von Verwirrung noch von Schmerzen beeinträchtigt. »Ja, Lois, ich höre dich.«
    Sie wollte die Arme um ihn legen, zögerte aber, weil ihr einfiel, dass man Schwerverletzte nicht bewegen sollte, weil man sie noch schlimmer verletzen oder gar töten konnte. Dann sah sie ihn wieder an, sah das Blut, das aus seinen Mundwinkeln lief und den Unterkörper, der sich vom Oberkörper gelöst zu haben schien, und kam zu dem Ergebnis, dass es unmöglich wäre, Ralph noch schwerer zu verletzen, als er es bereits war. Sie umarmte ihn, beugte sich zu ihm und nahm die Gerüche des Desasters in sich auf: Blut und den süßsauren Acetongeruch verbrauchten Adrenalins in seinem Atem.
    »Diesmal hast du es geschafft, was?«, fragte Lois. Sie küsste seine Wange, seine blutigen Augenbrauen, die blutige Stirn, wo sich ein Hautlappen vom Schädel gelöst hatte. Sie fing an zu weinen. »Sieh dich doch an! Hemd zerrissen, Hose zerrissen … glaubst du, Kleidungsstücke wachsen auf Bäumen?«
    »Ist er verletzt?«, fragte Helen hinter ihr. Lois drehte sich nicht um, aber sie sah die Schatten auf der Straße:
Helen, die ihrer weinenden Tochter einen Arm um die Schultern gelegt hatte, und Rosie, die neben Helens rechtem Bein stand. »Er hat Nat das Leben gerettet, und ich habe nicht einmal gesehen, woher er gekommen ist. Bitte, Lois, sag mir, dass er n…«
    Dann verschoben sich die Schatten, denn Helen ging zu einer Stelle, von der sie Ralph tatsächlich sehen konnte, und sie zog Nats Gesicht an ihre Bluse und fing an zu weinen.
    Lois beugte sich dichter über Ralph, streichelte seine Wangen mit der Handfläche, wollte ihm sagen, dass sie mit ihm kommen wollte - das hatte sie gewollt, ja, wirklich, aber am Ende war er zu schnell für sie gewesen. Am Ende hatte er sie zurückgelassen.
    »Ich liebe dich, Herzblatt«, sagte Ralph. Er streckte den Arm aus und kopierte ihre Geste mit seiner eigenen Hand. Er versuchte, auch die linke Hand zu heben, aber sie blieb auf dem Asphalt liegen und zuckte.
    Lois nahm seine Hand und küsste sie. »Ich liebe dich auch, Ralph. Immer. So sehr.«
    »Ich musste es tun. Verstehst du?«
    »Ja.« Sie wusste nicht, ob sie es verstand, wusste nicht, ob sie es je verstehen würde … aber sie wusste, dass er im Sterben lag. »Ja, ich verstehe.«
    Er seufzte rau - der süßliche Acetongeruch stieg wieder zu ihr auf - und lächelte.
    »Miz Chasse? Miz Roberts, meine ich?« Es war Pete, der hektisch keuchend sprach. »Geht es Mr. Roberts gut? Bitte sagen Sie, dass ich ihn nicht verletzt habe!«
    »Bleib weg, Pete«, sagte sie, ohne sich umzudrehen. »Ralph geht es gut. Er hat sich nur das Hemd und die Hose zerrissen … richtig, Ralph?«

    »Ja«, sagte er. »Worauf du dich verlassen kannst. Du musst mir eine Tracht Prügel verabreichen für …«
    Er verstummte und sah nach links. Da stand niemand, aber Ralph lächelte trotzdem. »Lachesis!«, sagte er.
    Er streckte die zitternde, blutige rechte Hand aus, die sich vor den Augen von Lois, Helen und Pat Sullivan zweimal in der Luft hob und senkte. Ralph verdrehte wieder die Augen, diesmal nach rechts. Langsam, ganz langsam, bewegte er die Hand in diese Richtung. Als er diesmal sprach, klang seine Stimme schwächer. »Hi, Klotho. Vergessen Sie nicht: Es … tut nicht … weh. Richtig?«
    Ralph schien zu lauschen, dann lächelte er.
    »Jep«, flüsterte er, »so, wie Sie sie kriegen können.«
    Seine Hand hob und senkte sich wieder in der Luft und fiel dann auf seine Brust zurück. Er sah Lois mit seinen brechenden blauen Augen an.
    »Hör zu«, sagte er unter großer Anstrengung. Aber seine Augen blitzten und hielten ihren Blick fest. »Jeden Tag, wenn ich neben dir aufgewacht bin, war mir, als würde ich jung aufwachen und alles … zum ersten Mal sehen.« Er versuchte, die Hand wieder zu ihrer Wange zu heben, konnte es aber nicht. »Jeden Tag, Lois.«
    »So war es für mich auch, Ralph - als würde ich jung aufwachen.«
    »Lois?«
    »Was?«
    »Das Ticken«, sagte er. Er schluckte, dann sagte er es noch einmal, wobei er die Worte unter größter Mühe deutlich aussprach. »Das Ticken.«
    »Welches Ticken?«

    »Vergiss es, es hat aufgehört«, sagte er und lächelte strahlend. Gleich darauf hörte auch Ralph auf.

23
    Klotho und Lachesis sahen zu, wie Lois über dem Mann weinte, der tot auf der Straße lag. In einer Hand hielt Klotho seine Schere; die andere hatte er in
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