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Schlaflos - Insomnia

Titel: Schlaflos - Insomnia
Autoren: Stephen King
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dieser Hitze spazieren gehst! Aber sie sagte nie etwas, und allmählich erst ging ihm auf, dass sie es nicht einmal wusste. Dass er ausging - ja, das wusste sie. Aber nichts von den vielen Meilen, die er zu Fuß ging, und auch nicht, dass er häufig vor Erschöpfung zitterte
und einem Hitzschlag nahe war, wenn er nach Hause kam. Früher hatte es für Ralph immer den Anschein gehabt, sie würde alles sehen, selbst wenn er seinen Scheitel einen Zentimeter versetzt trug. Jetzt nicht mehr; der Tumor in ihrem Gehirn hatte ihr die Beobachtungsgabe gestohlen, wie er bald ihr Leben stehlen würde.
    Und so ging er spazieren und genoss die Hitze, obwohl ihm manchmal schwindlig dabei wurde und seine Ohren klingelten, er genoss sie, gerade weil sie seine Ohren zum Klingeln brachte; manchmal klingelten sie stundenlang so laut, und seine Kopfschmerzen pochten so heftig, dass er das Ticken von Carolyns Todesuhr nicht mehr hören konnte.
    Er wanderte in diesem heißen Juli fast durch ganz Derry, ein alter Mann mit schmalen Schultern und schütterem weißen Haar und großen Händen, die immer noch aussahen, als wären sie zu harter Arbeit fähig. Er ging von der Witcham Street bis zu den Barrens, von der Kansas Street bis zur Neibolt Street, von der Main Street bis zur Kissing Bridge, aber am häufigsten trugen ihn seine Füße von der westlichen Harris Avenue, wo die immer noch wunderschöne und heiß geliebte Carolyn Roberts ihr letztes Jahr in einem Nebel von Kopfschmerzen und Morphium verbrachte, entlang zur Harris Avenue Extension und dem Derry County Airport. Er ging die Extension entlang - die baumlos und damit der unbarmherzigen Sonne völlig ausgeliefert war -, bis er spürte, wie seine Knie weich wurden, dann erst kehrte er um.
    Er verweilte oft an einem schattigen Picknickplatz in der Nähe des Flughafeneingangs, um wieder zu Puste zu kommen. Nachts war dies ein Teenagertreffpunkt für Liebesspiele und zum Trinken, wo Rap aus Ghettoblastern
dröhnte, aber tagsüber gehörte der Platz fast ausschließlich einer Gruppe von Ralphs Freunden, die Bill McGovern immer die »Harris Avenue Altsemester« nannte. Die Altsemester trafen sich, um Schach oder Gin-Rommé zu spielen oder einfach nur, um zu schwatzen. Ralph kannte viele seit Jahren (mit Stan Eberly war er sogar in die Grundschule gegangen) und fühlte sich wohl bei ihnen … solange sie nicht zu neugierig wurden. Die meisten wurden es nicht. Sie waren zum überwiegenden Teil Yankees von altem Schrot und Korn, die in dem Glauben aufgezogen worden waren: Worüber ein Mann nicht sprechen will, das geht nur ihn etwas an.
    Bei einem dieser Spaziergänge fiel ihm zum ersten Mal auf, dass mit Ed Deepneau, einem Nachbarn aus seiner Straße, etwas nicht stimmte.

2
    Ralph war an diesem Tag viel weiter die Harris Avenue Extension entlanggegangen, was möglicherweise daran lag, dass Gewitterwolken die Sonne verdeckten und eine kühle, wenn auch sporadische Brise zu wehen angefangen hatte. Er war in eine Art Trance gefallen, hatte an nichts gedacht, nichts gesehen außer den staubigen Spitzen seiner Turnschuhe, als die United-Airlines-Maschine 16.45 von Boston dicht über ihm dahinflog und ihn mit dem vibrierenden, markerschütternden Heulen ihrer Düsenturbinen in die Wirklichkeit zurückholte.
    Er sah der Maschine nach, wie sie über die alten Eisenbahnschienen von GS & WM und den Sturmzaun flog, der
die Grenze des Flughafengeländes umgab, sah sie der Landebahn entgegensinken, sah die blauen Rauchwölkchen, als die Reifen aufsetzten. Dann schaute er auf die Uhr, stellte fest, wie spät es geworden war, und betrachtete mit großen Augen das orangefarbene Dach des Howard Johnson’s an der Straße. Er war tatsächlich in einer Trance gewesen; er hatte fünf Meilen zurückgelegt und nicht das geringste Gefühl dafür gehabt, wie die Zeit verging.
    Carolyns Zeit, flüsterte eine Stimme tief in seinem Kopf.
    Ja, ja; Carolyns Zeit. Sie war im Apartment und zählte wahrscheinlich die Minuten, bis sie wieder eine Darvon Complex nehmen konnte, und er befand sich auf der anderen Seite des Flughafens … fast auf halbem Weg nach Newport.
    Ralph sah zum Himmel hinauf und nahm zum ersten Mal wirklich die blutergusspurpurnen Gewitterwolken wahr, die sich über dem Flughafen auftürmten. Sie brachten keinen Regen, nicht unbedingt, noch nicht, aber falls es regnete, würde er mit ziemlicher Sicherheit davon überrascht werden; es gab nirgendwo einen Unterschlupf zwischen hier und dem kleinen
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