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Schlaflos - Insomnia

Titel: Schlaflos - Insomnia
Autoren: Stephen King
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die Hände.
    »Hören Sie«, sagte er. »Wir können miteinander reden…«

    Weiter kam er nicht. Ed machte noch einen raschen Schritt vorwärts, hob eine schlanke Hand - die sich im schnell dunkler werdenden Tag übertrieben weiß ausnahm - und schlug dem Schwergewichtigen damit über die mehr als beträchtlichen Hängebacken. Das Geräusch hörte sich wie der Knall aus dem Luftdruckgewehr eines Kindes an.
    »Wie viele hast du umgebracht?«, fragte Ed.
    Der Schwergewichtige drückte den Rücken an die Seite des Pick-ups; sein Mund stand offen, seine Augen waren geweitet. Ed hielt in seinem merkwürdig steifen, stolzierenden Gang keinen Moment inne. Er lief zu dem anderen Mann, stand Bauch an Bauch mit ihm und schien überhaupt nicht zu bemerken, dass der Fahrer des Pick-ups einen halben Kopf größer und mindestens hundert Pfund, wenn nicht mehr, schwerer war. Ed hob die Hand und schlug ihn erneut. »Komm schon! Spuck’s aus, tapferer Junge - wie viele hast du umgebracht? « Seine Stimme schwoll zu einem Kreischen an, das im ersten Ehrfurcht gebietenden Donnerschlag des Gewitters unterging.
    Der Schwergewichtige stieß ihn weg - eine Geste, die nicht Aggression, sondern einfach Angst ausdrückte -, und Ed taumelte rückwärts gegen die eingedrückte Schnauze seines Datsun. Er schnellte sofort wieder mit geballten Fäusten nach vorn und nahm offensichtlich all seine Kräfte zusammen, um sich auf den Schwergewichtigen zu stürzen, der mittlerweile mit schief sitzender Schildkappe und an den Seiten und am Rücken heraushängendem Hemd an seinen Pritschenwagen gelehnt stand. Eine Erinnerung schoss Ralph durch den Kopf - ein Kurzfilm mit den drei Stooges, den er vor Jahren gesehen hatte; Larry, Curly und
Moe spielten ahnungslose Anstreicher -, und unvermittelt wallte Sympathie für den Schwergewichtigen in ihm auf, der absurd und zu Tode geängstigt zugleich aussah.
    Ed Deepneau sah alles andere als absurd aus. Mit den gefletschten Zähnen und dem starren Blick erinnerte Ed mehr denn je an einen Kampfhahn. »Ich weiß, was du getan hast«, flüsterte er dem Schwergewichtigen zu. »Was hast du gedacht, ist das für eine Komödie? Hast du geglaubt, du und deine Schlächterfreunde würden für immer damit durchkom…«
    In diesem Augenblick traf Ralph dort ein, schnaufend und keuchend wie ein alter Karrengaul, und legte Ed einen Arm um die Schultern. Die Hitze unter dem dünnen T-Shirt war beängstigend; es war, als würde man den Arm um einen Heizofen legen, und als Ed sich umdrehte und ihn ansah, hatte Ralph den vorübergehenden (aber unvergesslichen) Eindruck, dass er auch direkt in einen Heizofen blickte. Er hatte noch nie eine derart allumfassende, vernunftlose Wut in zwei menschlichen Augen gesehen; hätte nie vermutet, dass so eine Wut überhaupt existieren könnte.
    Ralph verspürte spontan den Impuls zurückzuweichen, aber er unterdrückte ihn und blieb felsenfest stehen. Er hatte den Eindruck, wenn er zurückwich, würde sich Ed wie ein bösartiger Hund auf ihn stürzen und beißen und kratzen. Das war selbstverständlich absurd; Ed war Chemiker, Ed war Mitglied des Book of the Month Club (von der Sorte, die stets die zwanzig Pfund schwere Geschichte des Krimkriegs kauften, die sie scheinbar immer als Alternative zum Hauptvorschlagsband anboten), Ed war Helens Mann und Natalies Dad. Verdammt, Ed war ein Freund.

    … aber dies hier war nicht Ed, und das wusste Ralph.
    Statt zurückzuweichen, beugte sich Ralph nach vorn, packte Ed an den Schultern (so heiß unter dem T-Shirt, so unvorstellbar, pulsierend heiß) und drehte sein Gesicht so, dass es den Schwergewichtigen vor Eds unheimlich starrem Blick verbarg.
    »Ed, lass das!«, sagte Ralph. Er sprach mit der lauten, aber gelassenen und festen Stimme, die man seiner Vermutung nach bei Leuten mit hysterischen Anfällen benutzte. »Alles in Ordnung! Hör auf!«
    Einen Augenblick veränderten sich Eds starre Augen nicht, aber dann wanderte sein Blick über Ralphs Gesicht. Das war nicht viel, aber Ralph verspürte dennoch einen Hauch der Erleichterung.
    »Was ist denn mit dem los?«, fragte der Schwergewichtige hinter Ralph. »Ist er verrückt, was meinen Sie?«
    »Mit ihm ist alles bestens, da bin ich mir ganz sicher«, sagte Ralph, obwohl er sich ganz und gar nicht sicher war. Er sagte es aus dem Mundwinkel heraus und ließ Ed dabei nicht aus den Augen. Er wagte nicht, ihn aus den Augen zu lassen - ihm schien, dass der Blickkontakt der einzige Einfluss war, den er
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