Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Schlaflos - Insomnia

Titel: Schlaflos - Insomnia
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
seine Frau. Sie gingen fast überall gemeinsam hin, hatten keine Geheimnisse voreinander und stritten selten, dass man genauso gut sagen könnte, sie stritten nie. Außerdem hatte er den Beagle Rosalie, den Schaukelstuhl, der einst Mr. Chasse gehört hatte, jetzt aber seiner war, und fast täglich Besuche von Natalie (die sie jetzt Ralph und Lois statt Walf und Roliss nannte, eine Veränderung, die beide nicht als Verbesserung ansahen). Und er war gesund, was möglicherweise das Allerbeste war. Es war einfach das Leben, voll kurzfristiger Belohnungen und Rückschläge, und Ralph genoss es voll Freude und Gelassenheit bis
Mitte März 1998, als er eines Morgens aufwachte, auf die Digitaluhr neben dem Bett sah und feststellte, dass es 5.49 Uhr war.
    Er lag still neben Lois, weil er sie nicht stören wollte, indem er aufstand, und fragte sich, was ihn geweckt hatte.
    Das weißt du doch, Ralph.
    Nein, weiß ich nicht.
    Doch, du weißt es. Hör gut hin.
    Also hörte er gut hin. Er hörte ganz genau hin. Und nach einer Weile konnte er es in den Wänden hören: das leise, sanfte Ticken der Todesuhr.

9
    Ralph erwachte am folgenden Morgen um 5.47 und am Morgen darauf um 5.44 Uhr. Sein Schlaf schwand Minute um Minute, während der Winter Derry langsam aus seinem Griff entließ und dem Frühling Platz machte. Im Mai hörte er das Ticken der Todesuhr überall, wusste aber, es kam nur von einem einzigen Punkt und projizierte sich, wie ein guter Bauchredner seine Stimme projizieren kann. Beim ersten Mal war es aus Carolyn gekommen. Jetzt kam es aus ihm.
    Er verspürte weder die Angst, die ihn packte, als er davon überzeugt war, Krebs zu haben, noch die Verzweiflung, an die er sich vage von seiner früheren Phase der Schlaflosigkeit erinnerte. Er wurde schneller müde, und es fiel ihm schwerer, sich zu konzentrieren und sich selbst an einfache Dinge zu erinnern, aber er fügte sich gelassen in das, was geschah.

    »Schläfst du gut, Ralph?«, fragte Lois ihn eines Tages. »Du hast große dunkle Ringe unter den Augen.«
    »Das liegt an den Drogen, die ich nehme«, sagte Ralph.
    »Sehr witzig, du alter Esel.«
    Er nahm sie in die Arme und drückte sie. »Mach dir um mich keine Sorgen, Liebling - ich bekomme so viel Schlaf, wie ich brauche.«
    Eine Woche später erwachte er morgens um 4.02 Uhr und spürte einen pochenden Strang starker Hitze in seinem Arm - sie pochte in perfektem Einklang mit dem Ticken der Todesuhr, die selbstverständlich nichts anderes als sein eigener Herzschlag war. Aber dieses neue Ding war nicht sein Herz, jedenfalls glaubte Ralph das nicht; es war, als wäre ein Stromkabel ins Fleisch seines Unterarms eingepflanzt worden.
    Das ist die Narbe, dachte er, und dann: Nein, es ist das Versprechen. Die Zeit des Versprechens ist fast gekommen.
    Welches Versprechen, Ralph? Welches Versprechen?
    Er wusste es nicht.

10
    Eines Tages Anfang Juni kamen Helen und Nat zu Besuch und erzählten Ralph und Lois von einem Ausflug nach Boston mit »Tante Melanie«, einer Bankangestellten, mit der Helen eng befreundet war. Helen und Tante Melanie waren zu einer feministischen Versammlung gegangen, während Natalie in der Kindertagesstätte mit etwa einer Milliarde neuer Kinder Freundschaft schloss, und dann
war Tante Melanie zu weiteren feministischen Aktivitäten nach New York und Washington weitergereist. Helen und Nat waren ein paar Tage in Boston geblieben, um die Sehenswürdigkeiten zu bewundern.
    »Wir haben einen Zeichentrickfilm gesehen«, sagte Natalie. »Er handelte von Tieren im Wald. Sie haben gesprochen!« Das letzte Wort sprach sie mit Shakespearscher Grandeur aus - gesprochen .
    »Filme mit sprechenden Tieren sind toll, was?«, fragte Lois.
    »Ja! Außerdem habe ich dieses neue Kleid bekommen.«
    »Und was für ein hübsches Kleid«, sagte Lois.
    Helen sah Ralph an. »Alles in Ordnung, alter Freund? Du siehst blass aus und hast noch keinen Pieps gesagt.«
    »Hab mich nie besser gefühlt«, sagte er. »Ich habe mir nur gerade überlegt, wie süß ihr beiden mit diesen Mützen ausseht. Habt ihr sie im Fenway-Park gekauft?«
    Helen und Nat trugen beide Boston-Red-Sox-Mützen. Bei warmem Wetter waren diese in Neuengland alltäglich (»alltäglich wie Katzendreck«, hätte Lois gesagt), aber der Anblick der Mützen auf den Köpfen dieser beiden Menschen rief ein tiefes Echo in Ralph wach … und das war mit einem bestimmten Bild verbunden, das er nicht im Geringsten verstand: der Fassade des Red Apple.
    Inzwischen hatte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher