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Schieber

Schieber

Titel: Schieber
Autoren: C Rademacher
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unschön wird.«
    Stave denkt an die verfilzten Haare des Opfers, die Krätze an den
Armen, die zerlumpte Kleidung. »Schön war der Bengel schon lange nicht mehr«,
erwidert er und reicht dem Pathologen zum Abschied die Hand.
    Der Oberinspektor wartet noch, bis der Leichenwagen über
das holprige Kopfsteinpflaster rollt. Die Totengräber erreichen die Baracke zur
gleichen Zeit wie ein Lastwagen der Feuerwehr, der die Bombe abtransportieren
soll.
    Gut, dass die Benzinrationen erhöht worden sind, denkt Stave. Vor
einem halben Jahr noch hätte man den Toten und den Blindgänger auf Handkarren
wegtransportieren müssen. Er gibt letzte Anweisungen und verabschiedet sich.
    Am Becken von Blohm & Voss ragt zwischen den Wracks zweier
U-Boote ein hölzerner Anleger ins schmutzige Wasser, an dem eine Barkasse
vertäut ist: ein flaches Motorboot, vorne ein kleines Steuerhaus, auf dem
offenen Deck dahinter ein paar Reihen hölzerner Bänke. Morgens und abends
tanzen Dutzende Barkassen über die Wellen, pendeln zwischen den Haltestellen
der Hochbahn und den Werften auf der anderen Flussseite, beladen mit müden,
streitlustigen Arbeitern. Nun ist es Mittag, die meisten Motorboote dümpeln an
den Elbufern.
    Nur eine Barkasse steht unter Dampf, kleine, schwarze Rußwolken
wehen aus dem stumpfen Schornstein. Auf dem offenen Deck sitzen vier Männer in
abgetragenen Anzügen, lederne Aktentaschen in den Händen. Einer hat sich ein
weißes, schweißverfärbtes Taschentuch mit vier Knoten auf das Haupt gesetzt, um
sich vor der stechenden Sonne zu schützen, ein anderer hat einen großen,
braunen Briefumschlag, den er abwechselnd als Fächer benutzt und über den
kahlen Kopf ausbreitet. Die anderen sitzen stoisch oder schon zu müde, um sich
noch gegen die Hitze zu wehren, auf den harten Bänken.
    Stave und seine Männer grüßen stumm mit Kopfnicken, ignorieren die
neugierigen Blicke der Angestellten, lassen sich auf das Holz fallen. Kurz
darauf klopft die alte Dampfmaschine unter Deck lauter, das eiserne Schanzkleid
der Barkasse zittert, Wasser am Rumpf gurgelt, und langsam legt das betagte Boot
ab.
    Der Oberinspektor starrt zurück auf die Werft, die hinter ihnen
kleiner wird. An der Flanke des größten Schwimmdocks leuchtet in großen weißen,
wenn auch verwaschenen Buchstaben »Blohm & Voss«. Er atmet in tiefen Zügen
ein. Kommt der Wind aus Nordwest, trägt er den Duft von Salz und Seetang von
der Nordsee bis nach Hamburg. Der Oberinspektor blickt kurz zum Schornstein:
Rußwolken puffen heraus und zerfließen langsam in der Luft – ein Lüftchen nur,
aus Südost. Es stinkt faulig nach Fisch und bitter nach der Kohle aus dem
Kessel der Barkasse. Auch ein Fortschritt. Im letzten Winter hatte niemand mehr
Kohle, weil die Züge aus dem Ruhrgebiet entweder irgendwo festgefroren oder
leergeplündert waren. Stave denkt an die Kälte zurück und schüttelt den Kopf –
ich werde mich nie wieder über Kohlequalm beklagen, sagt er sich.
    Je weiter das Boot Richtung Strommitte stampft, desto heftiger
tanzen steile Wellen von allen Seiten heran. Mal steigt der Bug hoch, mal rollt
die Barkasse zur Seite, mal hebt sich das Heck, manchmal, glaubt der
Oberinspektor, passiert das alles zugleich. Obwohl der Hafen nur noch ein
Schatten früherer Betriebsamkeit ist, pflügen doch schon wieder so viele
Schiffe durch die Elbe und die Becken, dass ihre Bug- und Heckwellen das Wasser
aufquirlen.
    Mehr als drei Viertel des Hafens sind zerbombt worden. Stave kann
keinen einzigen Schuppen erkennen, der noch unzerstört wäre. An manchen Kais
sind alle Kräne abgeknickt. Vor den zerbröselten Ufermauern liegen noch immer
Wracks im Strom: verrostete, von Möwendreck weiß gesprenkelte Geisterschiffe,
von denen noch Schornsteine, Aufbauten, manchmal auch Bug oder Heck aus dem
Wasser ragen. Mehr als 500 gesunkene Schiffe versperrten nach Kriegsende den
Hafen.
    Andererseits: An einem Kai liegt die »Leland Stamford«, das
Sternenbanner weht am Heck. Ein schmuckloser Liberty-Frachter, aus dessen Bauch
Schauerleute auf dem Rücken Säcke schleppen, da kein Kran zu gebrauchen ist.
Vielleicht Zucker, vielleicht Getreide – egal, irgendwas, das uns satt macht,
denkt Stave. Aus anderen Frachtern wird Kohle auf Ewer umgeladen, auf flache
Kähne, die mit ihrer grauschwarzen Last im Gewirr kleinerer Kanäle verschwinden
oder stromauf ins Binnenland.
    Zwischen Ewern, Barkassen und Frachtern tanzen Schlepper. Stromab
schnauft die »Jan Molsen« heran, ein dickleibiger,
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