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Schieber

Schieber

Titel: Schieber
Autoren: C Rademacher
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uralter Ausflugsdampfer.
Dreimal die Woche stampft er bis Cuxhaven und zurück, oft drängen sich tausend
Menschen auf seinen weiß gestrichenen Decks – nicht Touristen, sondern
Hamsterfahrer, die gegen Zigaretten und Schmuck Kartoffeln oder Äpfel von den
Bauern Holsteins eintauschen. Man sagt, die »Jan Molsen« werde von der Polizei
weniger häufig kontrolliert als die Züge, die nach Norden abgehen. An ihrem
Heck knattert im Fahrtwind eine blau-weiß-rot gestreifte Fahne mit dreieckigem
Ausschnitt, die Signalflagge für den Buchstaben »C«. Die Alliierten haben den
Deutschen verboten, das alte Hakenkreuzbanner zu führen, andere Nationalfarben
dürfen sie auch nicht flaggen. Sie müssen das grotesk gestreifte »C« zeigen,
eine Schandflagge, die von anderen Schiffen nicht gegrüßt wird. »C« wie
»Capitulation«, denkt der Oberinspektor und zuckt die Achseln. Geschieht uns
recht so.
    Seine Barkasse passiert ein großes, altertümlich wirkendes Schiff
mit zwei hohen Schornsteinen und einem geraden Steven. Das Sowjetbanner
leuchtet rot im schmutzig-grauen Einerlei des Hafens, obwohl es schlaff am
Fahnenstock hängt.
    Czrisini tritt neben ihn und deutet auf den kyrillisch geschriebenen
Namen am Heck. »Das war bis 1945 noch die ›Oceana‹, ein KdF-Dampfer. Einer
meiner Freunde ist mal damit gefahren, muss 1935 oder 1936 gewesen sein.«
    »Und Sie?«
    »Ich war nicht völkisch genug gesonnen für Kraft-durch-Freude.«
    »Vielleicht dürfen Sie jetzt mitfahren, vorausgesetzt, Sie treten in
die KPD ein. Scheint nun ein sowjetischer Frachter zu sein.«
    »Ja, am Heck steht ›Sibirien‹. Der neue Name ist nicht ganz so
poetisch wie der alte.«
    »Sibirien«, murmelt Stave.
    Sein Sohn Karl ist dort, seit zwei Jahren schon. Wie er wohl
aussieht? Zuletzt war er ein kräftiger, zorniger Junge gewesen, der patriotisch
und hitlergläubig noch im Frühjahr 1945 in den bereits verlorenen Krieg gezogen
war – und seinen Vater, der nicht einmal Mitglied der NSDAP gewesen war, als
Feigling beschimpft hatte. Lange hatte er danach nichts von ihm gehört.
Verschollen. Dann, endlich, ein Brief vom Roten Kreuz und schließlich sogar ein
paar Zeilen in der Schülerhandschrift von Karl. Nun wieder nichts, seit Wochen
schon. Ob es im hohen Norden auch so heiß ist? Oder ob da noch immer Schnee
liegt? Wann Karl wohl heimkommt?
    Heim. Seine Gedanken wandern zu Anna. Seiner Geliebten. Wie seltsam
das klingt und irgendwie unwürdig für einen Kripobeamten. Seit zwei Monaten
sind sie ein Paar, die zwei glücklichsten Monate seit einigen Jahren für Stave.
    Anna von Veckinhausen ist aus ihrer elenden Nissenhütte, die sie
seit 1945 bewohnt hat, ausgezogen, hat vor drei Wochen die Genehmigung für eine
Kellerwohnung in Altona erhalten, Röperstraße 6: ein feuchtes Loch, ein Fenster
knapp unterhalb der Zimmerdecke, nasse Ziegelwände, von denen weißgraue Ölfarbe
abblättert, der Gestank nach Lysol – aber immer noch besser als die
Wellblechbaracke. Und privater. Manchmal verbringt sie die Nacht bei ihm in
seiner Wohnung in Wandsbek. Öfter aber ist er bei ihr, im Keller von Altona
sind die Nachbarn nicht so neugierig.
    Undenkbar, dass sie zu ihm ziehen könnte, ohne Trauschein. Und ob
sie je heiraten werden? Stave ist Witwer, doch Anna? Bis heute weiß er nicht,
ob sie unverheiratet ist oder verwitwet oder geschieden – oder ob da noch ein
Ehemann in ihrer Vergangenheit herumspukt wie ein Gespenst. Sie waren
vorsichtig und sprachen bislang nur in Andeutungen über die Jahre vor 1945.
    Stave verdrängt diese Sorge, starrt hinaus auf den Fluss, genießt
den kühlenden Fahrtwind, gibt sich zärtlichen Gedanken an seine Geliebte hin.
Schön, sich auf den Abend freuen zu können und nicht mehr die einsamen Stunden
nach dem Dienst zu fürchten.
    Sein Blick fällt zufällig auf Kienle. Der Polizeifotograf steht ein
paar Schritte neben ihm an der Reling der Barkasse, mit einer sehr seltsamen
Gesichtsfarbe: dem Rot des Sonnenbrandes über dem Grün der Seekrankheit.
    »Wenn die Zeiten jemals wieder besser werden, lasse ich mich nach
Bayern versetzen«, stöhnt Kienle, als er bemerkt, dass der Oberinspektor ihn besorgt
anblickt.
    »Und da kotzen Sie dann den Bodensee voll«, erwidert Stave heiter.
Er deutet hinaus. »Wir stehen im Luv«, erklärt er, »der Windseite. Was hier
außenbords geht, das trägt der Wind sofort zurück, wenn Sie verstehen, was ich
meine. Besser, Sie suchen sich schon einmal ein ruhiges Plätzchen in Lee.«
    Kienle
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