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Schieber

Schieber

Titel: Schieber
Autoren: C Rademacher
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hat aufgehört. Es wird eine Vergnügungsfahrt.«
    »Britannia rules the waves«, winkt Stave freundlich ab. »Deutsche
Kripobeamte herrschen über den Asphalt. Ich gehe lieber zu Fuß nach Hause.«
    Stave verabschiedet sich von dem Engländer und verspricht, morgen in
der Residenz von Gouverneur Berry mit einem offiziellen Bericht zu erscheinen.
Dann wandert er los. Anderthalb Stunden, schätzt er, vielleicht auch zwei, denn
er ist erschöpft. Die Luft ist kühler und reingewaschen nach dem Regen. Das
Kopfsteinpflaster glänzt und dampft. Ruinen wie Spukschlösser in der diesigen
Luft. Mondlicht hinter Wolkentürmen. Seine Schritte sehr laut zwischen den
Trümmern.
    Nur ein paar Straßen weiter schläft Anna in der Kellerwohnung. Mit
jedem Schritt entfernt er sich von ihr. Er würde sie nun gerne umarmen. Sich an
ihre Seite legen, den Duft ihrer Haut einatmen, ihr langes Haar spüren.
Schlafen, tief und traumlos schlafen. Ich werde mit ihr reden. Es gibt genug zu
erzählen.
    Er denkt an Adolf Winkelmann, den Schmuggler und Schieber, der für
ein paar Tonbänder mit seinem Leben zahlte. An Hildegard Hüllmann, das
Wolfskind, die sterben musste, weil sie wissen wollte, wer den Jungen auf dem
Gewissen hat, der ihr einziger Lichtblick war in einem Leben aus Erniedrigung
und Gewalt. An Wilhelm Meinke, den Kohlenklauer, den ein anderes Wolfskind
ermordete und dessen Tod er nicht aufklären kann, während der Kriminalbeamte,
der dafür zuständig ist, ihn schon fast wieder vergessen hat. Verlorene Kinder,
verlorene Familien. Das haben wir ihnen angetan, denkt er, wir Älteren. Wir
machen sie zu Waisen, wir zertrümmern ihre Welt, wir stoßen sie herum, wir
kümmern uns einen Dreck um sie. Werden wir am Ende wenigstens ihre Mörder
bestrafen?
    Schließlich wandern seine Gedanken zu Karl. Ob er den Brief an der
Wohnungstür gelesen hat? Wäre schön, hofft Stave, wenn sein Sohn zu Hause auf
ihn warten würde.

Nachwort
    Die im Roman genannten Kinder sind fiktive Gestalten, ihre
Geschichten beruhen jedoch auf authentischen Schicksalen. Bis Mai 1947 registrierte
der Suchdienst des Roten Kreuzes und der beiden großen Kirchen in Hamburg etwa
40.000 elternlose Kinder: Waisen, die im Bombenhagel oder durch andere
Kampfhandlungen Mütter und Väter verloren hatten. Für 21.000 Mädchen und Jungen
machten die Helfer keinen einzigen Verwandten ausfindig, bei dem diese
unterschlüpfen konnten. Mehr als 1000 dieser verwaisten Kinder lebten nicht in
Heimen, sondern schlugen sich, allein oder in kleinen Banden, in der
verwüsteten Stadt durch. Sie hausten in selbstgebauten Unterkünften, in
Nissenhütten oder Hochbunkern. Sie verdingten sich als Handlanger des
Schwarzmarktes, als Kohlenklauer, Diebe oder Prostituierte.
    »Wolfskinder« wurden die jüngsten Opfer in Ostpreußen und anderen
östlichen Reichsteilen genannt, die ab dem Winter 1944/45 entweder ihre Eltern
verloren hatten oder auf der Flucht von ihnen getrennt worden waren. Sie
irrten, die Jüngsten nicht einmal sechs Jahre alt, monate- und jahrelang durch
die Wälder, durch verwüstete und aufgegebene Dörfer. Manche gelangten auf
abenteuerlichen Wegen bis in die westlichen Besatzungszonen.
    Einige Wolfskinder haben später ihre Erinnerungen aufgeschrieben –
etwa Ruth Kibelka: »Wolfskinder. Grenzgänger an der Memel«. Aus dem
öffentlichen Bewusstsein in Deutschland sind diese Kriegswaisen trotzdem nahezu
verschwunden.
    Einige Nebenfiguren im Roman sind authentisch, Bürgermeister Max
Brauer etwa oder der britische Zivilgouverneur Vaughan H. Berry. Die Sängerin
Margot Hielscher trat auf der Moorweide mit einer amerikanischen Jazzband auf.
Tätowier-Willi hatte sein Studio auf der Großen Freiheit, die Beschreibung des
Hauses richtet sich allerdings nach dem, was heute noch steht. Der Prozess um
die Erschießung von britischen Kriegsgefangenen wurde mit den genannten
Beteiligten geführt, allerdings vertrat nicht Staatsanwalt Ehrlich die Anklage,
denn diese Person ist fiktiv. Die Journalisten der Zeit werden
erkennen, dass sich hinter Ludwig Kleensch ein ehemaliger Kollege anderen
Namens und mit anderer Laufbahn verbirgt. Eine verwitwete Fuhrunternehmerin,
die ihr Unternehmen in den Nachkriegswirren führte, hat es ebenso gegeben wie
einen Boxpromoter, der Max Schmeling, Hein ten Hoff und viele weitere bekannte
Kämpfer unter Vertrag hatte und im Chilehaus residierte. Die beiden historischen
Vorbilder der Figuren hatten jedoch andere Namen, sie lebten nicht zusammen
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