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Schieber

Schieber

Titel: Schieber
Autoren: C Rademacher
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zusammengetragen hat, werden kaum zu einer Anklage,
geschweige denn zu einer Verurteilung führen. Der Lieutenant wirft ihm denn
auch einen überraschten Blick zu, einen winzigen Moment nur, dann versteht er.
»Zehn Jahre«, sagt er, schwer atmend. »Dann dürfen Lebenslängliche in England
ein Gnadengesuch stellen. Sie haben sich mit Ihren Fights einflussreiche
Freunde gemacht, vielleicht wird jemand ein gutes Wort für Sie einlegen. Auf
dem Weg zum Schafott hingegen wird Ihnen niemand helfen.«
    Kümmel schließt die Augen. Stave fürchtet, dass er in die Ohnmacht
abgleitet. Doch dann hebt er die Lider und nickt resigniert. »Klingt wie ein
Handel, den ich nicht ablehnen sollte«, murmelt er.
    »Sie haben Adolf Winkelmann ermordet?«, setzt der Oberinspektor
nach.
    »Ja. Nennen Sie es ›geschäftliche Notwehr‹. Der Junge ließ mir keine
Wahl mehr.«
    Stave atmet tief durch, lässt sich seine Erleichterung über das
Geständnis nicht anmerken. »Er hat Ihre Schmuggelgeschäfte gestört?«
    »Der Junge war ein gerissener Dieb. Er hat mir Eintrittskarten
gestohlen und auf dem Schwarzmarkt verschanzt. In der Wohnung kamen Zigaretten
weg. Und irgendwann in diesem Frühjahr hat er angefangen, einzelne Tonbänder
auf eigene Rechnung zu verticken. Der Junge war ganz verrückt nach Jazz. Er
wollte mit den Bändern irgendwie Jazz aufnehmen, während der Konzerte auf der
Moorweide und in den Clubs der Engländer.
    Ich habe Adolf schließlich in der Baracke von Blohm & Voss
erwischt. Der Kerl hockte auf dem Blindgänger und wühlte in einem Sack mit
Tonbändern, den ich dort versteckt hatte. Vollkommen abgebrüht, diese
Kriegskinder.«
    »Nicht abgebrüht genug.«
    Kümmel lacht, stöhnt aber sofort wieder vor Schmerzen auf. »Was
sollte ich tun? Der Adolf sitzt auf der Fliegerbombe, grinst mich an, als ich
in die Baracke hereinplatze, und sagt, er will halbe-halbe machen. Die Hälfte
der Tonbänder! Sonst verrät er meine Geschäfte an die Engländer. ›Gut‹, habe
ich gesagt und so getan, als bewundere ich sogar noch seine Dreistigkeit. Ich
bin zu ihm gegangen. Den Rest kann Ihnen der Pathologe erklären.«
    »Sie haben den Jungen eiskalt niedergestochen.«
    »Ein Erpresser, der noch dazu so wahnsinnig ist, auf einer scharfen
500-Pfund-Bombe zu sitzen, lässt einem keine große Wahl: Kapitulation oder«, er
zögert, »energische Maßnahmen. Ich habe die Tonbänder mitgenommen und mich
davongeschlichen. Ich hatte Angst, dass der Blindgänger jeden Moment
explodieren könnte. Ich hätte das Risiko eingehen und den Jungen doch in die
Elbe werfen sollen.«
    »Aber warum überhaupt dieses Risiko? Warum diese Bluttat? Es sind
doch bloß Tonbänder«, sagt Stave. Er zerrt Kümmel den Rucksack von den
Schultern. Ein Blick hinein: Tonbänder in Pappschachteln, darauf Reichsadler,
Hakenkreuz und die Buchstaben »RRG«. »Was ist da drauf?«
    »Musik.«
    »Das ist nicht die beste Gelegenheit, um Scherze zu machen.«
    »Klassische Musik. Die Berliner Philharmoniker. Furtwängler. Sie
spielen Beethoven, Wagner, Mozart. Die großen Meister.«
    »Ich denke, unter Meistern verstehen Sie bloß Ihre Boxer.«
    »Und Sie verstehen gar nichts.« Kümmel schließt erschöpft die Augen.
Mit einer schmerzverzerrten Grimasse richtet er sich wieder etwas auf. »Haben
Sie eine Zigarette?«
    »Sie rauchen doch?«
    »Nur zu außergewöhnlichen Anlässen.«
    Der Oberinspektor sucht in seinen Taschen, bis er eine durchweichte
Packung Senior Service findet, ein Segelschiff auf der feuchten Packung. Wie
passend. »Die werde ich nicht anzünden können.«
    »Stecken Sie mir das Ding zwischen die Lippen. Das beruhigt die
Atmung.«
    »Wir werden die Tonbänder bei der Kripo von Anfang bis Ende
durchspielen.«
    »Es wird Ihrer Bildung guttun. Die Berliner Philharmoniker sind
besser als die Stehgeiger, die sich in Hamburgs Ruinen herumtreiben. ›RRG‹
steht für ›Reichsrundfunkgesellschaft‹. Aufnahmen, die bis 1945 für das Radio gemacht
worden sind. Wie gesagt: von den Besten der Besten, darunter tat es der
Goebbels nicht.«
    »Wie sind Sie daran gekommen?«
    »Zufall. Ein Fahrer meiner Verlobten brachte einen Lastwagen voller
Bänder Ende 1946 aus Berlin mit, kurz vor dem Hungerwinter. Greta war
schrecklich wütend, weil er sich die Aufnahmen als Bezahlung hatte andrehen
lassen. Aber wer sollte hier etwas mit alten Tonbändern anfangen? Sie hat
Hunderte Bänder in ihrem Wohnzimmer aufgestapelt und schon beinahe vergessen,
als ich sie beim Umräumen
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