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Schieber

Schieber

Titel: Schieber
Autoren: C Rademacher
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Notbeleuchtung zu leben.
    Weit voraus ein Schatten, Schritte, die im engen Tunnel hallen.
    Stave nimmt sich trotzdem die Sekunden, um sich den Regenmantel vom
Leib zu reißen. Er atmet freier. Der andere hat immer noch seinen Umhang,
darunter den Rucksack. Damit musst du auch noch wieder hoch, denkt Stave und
macht sich an die Verfolgung.
    Weiße Kacheln, grünliche Fische, weiße Kacheln. Er atmet rasch und
konzentriert, blickt starr nach vorne. Der Rückstand wird nicht mehr größer,
aber die Distanz bleibt zu groß für einen Pistolenschuss. Kacheln. Die
Inschrift an der Wand, die die tiefste Tunnelstelle markiert. Der Boden steigt
an. Sein linkes Fußgelenk pocht vor Schmerz. Weiter, weiter. Irgendwo hinter
ihm Schritte. MacDonald, endlich.
    Die Gestalt taucht ins Dunkel am anderen Ende ein, dort, wo die
Treppe neben dem hölzernen Tor der Aufzugskabine in die Höhe führt. Die
Stahlkonstruktion hallt unter ihrem Gewicht. Sekunden später erreicht Stave die
erste Stufe, muss keuchend innehalten, starrt nach oben.
    Ein gigantischer Zylinder, der in der Kopie des Pantheons an den
Landungsbrücken endet. Kathedralenhohe Fenster dort oben, durch die selbst
jetzt ein wenig graues Licht flutet. Eingelassen in die geschwungene Wand sind
braune Reliefs mit den Porträts der wichtigsten Ingenieure, die an diesem
Projekt mitgearbeitet haben. Tönerne Bildnisse strenger Herren in Frack und
Kragen, die jeden Besucher zu missbilligen scheinen – und diese ganz besonders.
Das »Z« der Treppe. Mehr als hundert Stufen, viel mehr.
    Der Oberinspektor nimmt zwei Stufen auf einmal. Seine Lunge brennt,
Schleier tanzen vor seinen Augen. Schmerzen nun nicht nur im verletzten Gelenk,
sondern auch in den Waden und Oberschenkeln. Durst. Der Pulsschlag saust so
dröhnend in seinen Ohren, dass er nichts mehr hört. Aber die Schritte über ihm,
deren Zittern auf der Treppe spürt er noch.
    Zwei Stufen, zwei Stufen, Absatz. Weiter. Je höher er gelangt, desto
besser kann er sehen. Der Rückstand ist kleiner geworden. Soll er durch die
Treppe nach oben feuern? Zu gefährlich, Querschläger. Weiter.
    Die Empore oben. Noch ein paar Stufen. Der Zugang mit der gesperrten
Tür liegt versteckt in dem wuchtigen Bau, einige Meter zwischen der Treppe und
dem Portal, das nach außen hin den Eingang markiert. Der Mann zerrt an der Tür,
offenbar sehr erschöpft, unkonzentriert, mit flatternden Händen. Die Tür
schwingt auf.
    Da hebt Stave die FN 22 hoch und feuert.
    Der Knall hallt im Riesenzylinder so laut wie ein Schlag mit der
hohlen Hand auf beide Trommelfelle. Ein Schrei. Die Gestalt lässt einen
Schlüsselbund fallen, greift sich ans rechte Knie, sackt zusammen.
    Der Oberinspektor ist heran, zerrt die Handschellen heraus, packt
die Hände des Mannes und lässt die Eisen um die Gelenke klicken. Blut auf dem
Boden, Blut am Oberschenkel knapp über dem Knie, wo er ihn getroffen hat. Stave
reißt die Kapuze des Umhangs fort.
    »Amerika können Sie vergessen«, keucht er.
    Walter Kümmel. Der Boxpromoter liegt am Boden, das hagere
Gesicht weiß und schweißnass. »Das war wie im Wilden Westen«, presst er zwischen
den Lippen hervor und versucht ein Lächeln, trotz der Schmerzen. »Eine gute
Vorbereitung auf meine Reise.«
    »Sie werden nirgendwohin reisen, außer in die Hölle.« Der
Oberinspektor reißt ein Stück Stoff aus der Hose des Boxpromoters und bindet
dessen Wunde notdürftig ab. »Ich verhafte Sie wegen Schmuggels – und wegen der
Ermordung von Adolf Winkelmann, Hildegard Hüllmann und Wilhelm Meinke.«
    Kümmel schüttelt den Kopf. »So einfach mache ich Ihnen die Sache
nicht«, stöhnt er. »Sie können mir nichts nachweisen.«
    In diesem Moment taumelt MacDonald die letzten Treppenstufen hoch,
das Gesicht fahl, Pistole in der Faust. »Schade um die nächsten Boxkämpfe.« Der
Lieutenant blickt auf das verletzte Bein des Promoters. »Die Kugel steckt noch
im Fleisch. Das wird ihn nicht umbringen. Allerdings wird er sich sein Leben
lang daran erinnern.«
    Staves Herz hämmert, ihn schwindelt. Konzentrier dich. Kümmel ist
mindestens ebenso erschöpft, dazu die Schmerzen, das Blut, der Schock der
Verhaftung. Wenn du ihn überrumpeln willst, dann jetzt. Ein Bluff.
»Kapitalverbrechen landen vor einem englischen Gericht«, keucht er. »Bei Mord
droht Ihnen die Todesstrafe. Ihre einzige Chance, dem Fallbeil zu entgehen, ist
ein Geständnis.«
    Eine Lüge und gegen jede Vorschrift. Alle Indizien, die der
Oberinspektor bislang
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