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Delfinarium: Roman (German Edition)

Delfinarium: Roman (German Edition)

Titel: Delfinarium: Roman (German Edition)
Autoren: Michael Weins
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1. Der Giraffeneffekt
    Der Mann, der mir die Tür öffnet, ist kleiner als ich, aber breiter gebaut. Sein Oberkörper sieht nach Hanteltraining aus oder körperlicher Arbeit. Das karierte Hemd spannt darüber. Sein Haar hat sich bereits gelichtet und ist zur Seite gescheitelt. Er schaut mich prüfend durch das dicke Glas einer Brille an, mit kleinen Äuglein, die zu lächeln beginnen, als ich ihm meine Hand entgegenstrecke. Ich betrachte die beiden groben Falten, die von seinen Nasenflügeln zu den Mundwinkeln reichen und ihm das Aussehen eines jovialen Habichts verleihen.
    Gerade habe ich noch auf den Platten des Gehwegs gestanden, zwischen denen Unkraut wucherte, und die Fassade des Hauses abgesucht, konnte kein Zeichen von Leben entdecken. Die Flucht der Straße auf der einen Seite von Bungalows mit Firmenschildern gesäumt, in der Ferne das altmodische Gelb einer Telefonzelle und das Rosa von Heckenrosen, auf der anderen Seite die immer gleichen Reihenhäuser, eine verlorene Idylle.
    Ich hatte mein T-Shirt in die Hose gesteckt und mir einen Ruck gegeben.
    »Mein Name ist Martin«, sage ich, »wir haben telefoniert.«
    Er greift nach meiner Hand und drückt sie kräftig.
    »Hallo Martin, ich bin Henry, komm rein.«
    Er zieht mich zu sich in den Flur.
    Wir sind per Du. So schnell geht das.
    Er ist deutlich älter als ich, ich hätte nie gewagt, ihn zu duzen. Aber wenn er es so will, okay. Martin. Henry. Es ist ein Missverständnis. Ich heiße Daniel und nicht Martin, ich heiße Daniel Martin. Er heißt Henry. Gut. Für ihn bin ich jetzt Martin. Martin, spreche ich innerlich vor mich hin. Ich bin Martin. Es gefällt mir, es klingt gut. Es gefällt mir, Martin zu sein. Es ist wie Urlaub von mir selbst. Zwischen Henry und mir scheint das Eis gebrochen.
    Ich folge ihm durch einen dunklen Flur, in dem es nach Lederbekleidung riecht, ins Wohnzimmer.
    In einem Kiefernsitzmöbel mit kariertem Bezug lässt er mich Platz nehmen. Ich sehe mir die Aquarelle von bräunlichen Baumgruppen an der Wand an. Er verschwindet aus dem Raum und kommt kurz darauf mit einem Tablett zurück, auf dem er zwei Gläser und zwei Dosen Tuborg-Bier balanciert. Es ist kurz nach drei Uhr, aber ich beschließe, mich den Sitten und Gebräuchen meines Gastgebers anzuschließen.
    Henry setzt sich seitlich von mir in einen frei schwingenden Ledersessel. »So«, sagt er, öffnet das Bier. Er gießt uns ein. Ich nutze die Zeit, um mich heimisch zu machen, es gibt Kiefernregale, auf denen Gläser und Krüge und drei Bücher stehen, ein Klavier in einer Ecke des Raumes neben einem Deckenfluter und ein Trimm-dich-Fahrrad, wie meine Großmutter es hatte, als ich klein war. Vor dem Fenster breitet sich verwilderter Garten aus. In der Mitte, umgeben von kniehohem, ungemähtem Gras, steht eine Vogelskulptur. Ein großer Vogel mit ausgebreiteten Schwingen, den Schnabel zum Himmel emporgestreckt.
    »Schöner Vogel«, sage ich. Henry lässt seinen Blick dem meinen folgen und lächelt. Dann reicht er mir ein Glas hinüber und wir stoßen an.
    »So«, sagt Henry.
    »Ja«, entgegne ich.
    Wir sitzen uns gegenüber und lächeln. Da haben sich zwei gefunden. Er hat Bierschaum auf der Oberlippe.
    »Worum geht’s?«, fragt er mit echtem Interesse im Blick.
    Die Frage bringt mich aus dem Konzept. »Die Anzeige«, sage ich, »die Ausflüge, Zoobesuche, ich möchte gerne mit Ihrer Frau in den Zoo gehen, wir haben ja schon am Telefon darüber gesprochen.«
    Wer lässt einen Menschen in seine Wohnung und bietet ihm Bier an, denke ich, ohne sich zu erinnern, worum es geht?
    Henry greift sich an die Brille und sieht auf seine Schuhe, ich tue das Gleiche, er trägt flauschige Hausschuhe und Tennissocken mit einem roten und einem blauen Ring um die Knöchel.
    »Stimmt«, sagt er gedehnt, als sei das Wort auf seine Socken gestickt und er könne es dort ablesen. Dann sieht er wieder mich an.
    »Was kannst du?«
    Auf die Frage bin ich nicht vorbereitet. Ich bin irgendwie davon ausgegangen, ich ginge einfach untergehakt mit einer Frau spazieren, die sich von einer Gallenblasenoperation erholt oder so was, ich müsse nichts weiter können. Wie Zivildienst, hatte ich gedacht. Zivis müssen ja auch nichts können.
    »Wie?«, frage ich.
    »Meine Frau kann nicht sprechen«, sagt Henry.
    Das konkretisiert seine Frage meiner Meinung nach kein bisschen.
    »Ist sie stumm?«, frage ich. Ich wundere mich, warum es ihr dann hilft, durch den Zoo zu spazieren.
    »Es gab einen Unfall«, sagt Henry.
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