Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Delfinarium: Roman (German Edition)

Delfinarium: Roman (German Edition)

Titel: Delfinarium: Roman (German Edition)
Autoren: Michael Weins
Vom Netzwerk:
lausche den Klängen einer Spieluhr irgendwo im Raum, und ich höre Susann summen, das erste Mal, dass ich etwas von ihr höre.
    Ich frage mich, wie ich sie ansprechen soll. Sie ist 32 Jahre alt, hat Henry gesagt, viel älter als ich.
    »Hallo«, sage ich mit einer Stimme, als würde ich zu einem verletzten Tier sprechen, »ich bin es, Martin«, als könne sie das nicht selbst sehen.
    Sie kämmt und ich sehe mich im Zimmer um. Ihr Zimmer ist ein Delfinmuseum. An den Wänden Delfintapete, in regelmäßigen Abständen ist eine Gruppe von drei Tieren abgebildet, die übermütig über die immer gleichen Wellen springen, das Bett aus unbehandeltem Kiefernholz mit Delfinbettwäsche bezogen, auf einer Kommode ein gläserner Delfin, der auf seiner Schwanzflosse balanciert. Hier hat jemand ganze Arbeit geleistet.
    Mein Blick kehrt zu ihrem Haar zurück und mir ist, als würde Sonnenlicht direkt in mein Auge reflektiert, ein Gleißen geht von ihren Haaren aus, ein Knistern, dabei scheint die Sonne gar nicht, es ist ein bewölkter Tag. Durchs Fenster kann ich sehen, wie schwere Wolken die Wipfel der Erlen hinter dem Haus zerzausen.
    Ich stehe in der Tür mit hängenden Armen. Ich vergesse zu atmen, lausche dem Geräusch der Bürste in ihrem Haar, ein volles, sattes, ein sommerliches Geräusch, in dem ich mich verliere.
    Ich bin da, erinnere ich mich nach einer Weile. Ich räuspere mich. Röte schießt mir ins Gesicht.
    Sie dreht sich um und sieht mich aus großen Augen an. Sie schläft, denke ich, ein Blick wie ein Haus mit verwaisten Fenstern, und ich bin dazu da, um in allen Zimmern Licht anzumachen. Was denkst du denn da für einen Scheiß, höre ich mich denken, ist noch alles okay mit dir? Bei mir selbst weiß ich wenigstens genau, welchen Ton ich anzuschlagen habe.
    »Ich warte unten«, sage ich und schaue hilflos auf mein Handgelenk, an dem sich keine Armbanduhr befindet.
    Sie schaut auf den Boden.
    »Ich gehe schon mal runter«, sage ich, »ich warte unten.«
     
    Im Auto fällt mir auf, dass es komplizierter ist, als ich es mir vorgestellt habe. Henry hat mir ohne zu murren den Autoschlüssel für seinen Honda in die Hand gedrückt. Dann hat er Susann zum Auto hinter sich hergezogen, als wäre sie ein Koffer auf Rollen. Ich muss lächeln. Ich habe über ein Jahr für die Fahrschule benötigt, dabei neunundsiebzig Fahrstunden absolviert und zwei Fahrlehrer verschlissen. Und seither kaum Fahrpraxis. Und er gibt mir seinen Autoschlüssel einfach so. Ich litt damals unter wiederkehrenden Träumen, in denen sich das Auto unter mir selbstständig machte, ich konnte es nicht zähmen, Lenkung und Pedale reagierten nicht auf meine hektischen Versuche. Komischerweise freue ich mich jetzt aufs Autofahren.
    Das Problem ist eher, dass ich allein mit einer Frau bin, die schweigt. Sie sitzt neben mir auf dem Beifahrersitz und schaut geradeaus ins Nichts, hält sich an einer hellblauen Handtasche mit goldenem Verschluss fest. Ich kann die Grenzen ihrer Welt körperlich spüren, wie eine Glocke oder einen Kokon, der mich von ihr fernhält.
    Ich frage mich, was in diesen sieben Minuten passiert sein mag, in denen sie ohne Bewusstsein gewesen sein soll. Anscheinend handelte es sich um entscheidende Minuten. Ich habe einmal ein Buch von einem Siebziger-Jahre-Musiker gelesen, der nach einem Messerattentat monatelang im Koma lag. Während es nach außen so aussah, als läge er einfach dumpf vor sich hin, menschliche Vegetation, hatte er innerlich die bewegtesten Erlebnisse. Er wanderte allein durch fremde Landschaften, hatte aufwühlende Begegnungen mit sonderbaren Wesen, Wächtern, schnabelbewehrten Kreaturen, als wäre er wochenlang in einem Drogentrip zu Gast.
    Ich stelle mir vor, dass Susann innerlich für Wochen, Monate oder Jahre unterwegs war, und in unserer Wirklichkeit waren nachher bloß sieben Minuten vergangen. Wie bei den Astronauten, die einmal mit Lichtgeschwindigkeit ins nächste Sonnensystem fliegen werden, Alpha Centauri oder was weiß ich. Während sie bloß zwölf Jahre unterwegs sind, und auch diese Zeitspanne kommt mir schon unvorstellbar lang vor, sind auf der Erde im gleichen Zeitraum 80 Jahre vergangen. Sie fliegen mit 30 nach Alpha Centauri, kehren als 42-Jährige zurück, aber dort, wo sie losflogen, lebt kein Mensch mehr, mit dem sie ihr Leben teilten. Ich verstehe es nicht ganz, es hat etwas mit Einstein und der Relativitätstheorie zu tun. Und in Susanns Fall, stelle ich mir vor, ist es genauso. Ihre eigene
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher