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Scherbenparadies

Scherbenparadies

Titel: Scherbenparadies
Autoren: Inge Loehnig
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hinterlassen. Sandra versuchte, den Sturm, der in ihr heraufzog, zu beruhigen. »Wann ist er denn umgezogen?«
    »Der Nachbar sagt, vor drei Tagen wäre der Möbelwagen vorm Haus gestanden.«
    Sandra wurde schwindlig. Ein tonnenschwerer Druck legte sich auf ihre Brust. Drei Tage? Das ist jetzt nicht wahr. Das kann nicht sein. Unmöglich. Laura war nicht einfach schon vor Tagen mit Ulf weggezogen, ohne ein Wort zu sagen. Oder doch? War sie mit Ulf weggegangen, als hätte sie keine Kinder, die sie brauchten? Als wären sie und Vanessa einfach nur Ballast und Dreck?
    »Ist Ihnen nicht gut?« Mit einem besorgten Blick musterte Pflüger sie. »Soll ich Ihnen ein Glas Wasser holen?«
    »Nein, danke. Ist alles okay. Ich geh dann besser mal.« Sandra drehte sich um und verließ mit unsicheren Schritten die Wohnung. Vor drei Tagen. Die Worte hallten in ihr nach wie in einem Schacht. Drei Tage. Sie war weg. Einfach weg. Tränen stiegen auf. Ein fetter Klumpen setzte sich in Sandras Hals. Shit! Sie würde jetzt nicht heulen. Der Lift kam, sie stieg ein, lehnte sich an die Wand und schloss die Augen, um die Tränen zurückzuhalten. Selbstmitleid half jetzt auch nicht weiter. Die Türen öffneten sich. Sandra stand im Eingangsbereich des Hauses. Handy!
    Sie zerrte es aus der Hosentasche und suchte Lauras Nummer. Nach dem zweiten Klingeln ging die Mailbox ran. »Hi. Hier ist Laura. Nachrichten bitte nach dem Piepser.«
    »Sandra hier. Eine deiner Töchter. Falls du dich noch an uns erinnerst«, fauchte sie ins Telefon. »Wo bist du? Wann kommst du heim? Der Kühlschrank ist leer. Ich hab kein Geld, um etwas zu essen zu kaufen. Aber dich schert das ja alles nicht. Haust einfach mit diesem Kotzbrocken ab. Wenn du heute nicht kommst, gehe ich morgen zu dieser Tussi vom Jugendamt und gebe der mal Bescheid, was bei uns los ist.« Mit einer unbändigen Wut im Bauch legte Sandra auf und stopfte das Handy zurück in die Hosentasche.
    Draußen war es inzwischen dunkel geworden. Der Wind zog frostkalt durch die Straße. Er trieb ihr die Tränen in die Augen. Es lag am Wind und nicht an der Wut auf ihre Mutter. Und auch nicht an der Scham, kaum mehr als Dreck wert zu sein, oder an dem Gefühl der Einsamkeit, das ihr die Luft zum Atmen nahm. Der kalte Wind war schuld, dass die Tränen liefen.

4
    Als sie das Einkaufszentrum erreichte, versiegten die Tränen. Die Wut war verflogen und hatte einem hohlen Gefühl Platz gemacht. Sandra nahm ihre Umgebung wie durch Milchglas wahr. Ihre Finger waren beinahe taub vor Kälte. Sie trat in die Wärme des Gebäudes und wusste nicht, was sie tun sollte. Neunundsiebzig Cent. Ihr war schlecht vor Hunger. Seit heute Mittag hatte sie nichts gegessen. Neunundsiebzig Cent. Irgendwas würde sie dafür schon bekommen. Sie ging an McDonald’s, etlichen Modeläden, einer Buchhandlung und einem Blumenladen vorbei und betrat den Discounter.
    Obst und Gemüse. Zu teuer. Vergiss es! Suchend ging sie zwischen den Regalen hindurch und stieß mit einer alten Frau zusammen. »Kannst du nicht aufpassen?« Sandra murmelte eine Entschuldigung und ging weiter. Nudeln kosteten fünfundvierzig Cent, doch die Soße dazu 1,35 Euro. Eine Tüte Drei-Teller-Tomatensuppe gab es für fünfunddreißig Cent. Doch davon wurde man nur satt, wenn man Brot dazu aß. Das billigste Brot war eine Packung Dreikorntoast. Die kostete neunundvierzig Cent. Fünf Cent zu viel.
    Vanessa würde jammern. Wie immer, wenn sie hungrig war. Wieder wollte sich dieser Druck in Sandras Hals setzen. Doch Heulen löste das Problem ganz sicher nicht. Was sollte sie tun? Die Beutelsuppe, die sie in der Hand hielt, einfach unter den Pulli schieben? Für einen Augenblick war die Versuchung groß. Sie bezwang sie. Nein. Das würde sie ganz bestimmt nicht tun. Gut, dann gab es eben nur Toast. Nutella und Marmelade waren schließlich noch da. Sandra ging zurück zum Suppenregal und wollte die Tüte schon zurückstellen, als ihr Blick auf den Boden fiel. Dort lag ein Geldstück. Fünf Cent. Sandra sah sich um. Das Geld schien niemandem zu gehören. Genau die fünf Cent, die ihr fehlten. Kurz entschlossen bückte sie sich und hob die Münze auf.
    »Endlich mal jemand, der es passend hat«, sagte die Kassiererin, als Sandra zahlte, und schenkte ihr ein Lächeln.
    Auf dem Heimweg durch den Ostausgang des Einkaufszentrums kam Sandra am Obst- und Gemüsestand von Petra vorbei, einer Bekannten Lauras, die nicht verkaufte Ware in Kisten packte. Es war kurz vor Ladenschluss.
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