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Scherbenparadies

Scherbenparadies

Titel: Scherbenparadies
Autoren: Inge Loehnig
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Treppenhaus nach unten und trat auf den Gehweg. Neunundsiebzig Cent reichten nicht. Also musste sie erst Laura um Geld bitten.
    Sie zog die Jacke enger um sich, schlang die Arme um den Körper und machte sich auf den Weg. Das MVV-Ticket war zu teuer und schwarzfahren wollte sie nicht. Was ziemlich dämlich war. Jeder andere an ihrer Stelle würde genau das tun. Bei nur zwei Stationen war die Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden, ziemlich gering. Doch Sandra hatte sich geschworen, niemals jemanden zu betrügen. Denn wohin das führte, hatte sie am eigenen Leib erfahren. Damit begann der Absturz.
    Früher, als sie noch klein gewesen war, hatten sie in einer hübschen Doppelhaushälfte gelebt. Laura, sie und ihr Vater Stefan, der Filialleiter einer Bank gewesen war. Eines Tages war die Polizei vor der Tür gestanden und hatte ihren Papa in Handschellen abgeführt. Beinahe eine halbe Million hatte er im Laufe der Zeit unterschlagen und in Bad Wiessee im Kasino verspielt. Er musste ins Gefängnis. Sie verloren erst das Haus, dann die Freunde und Laura schließlich auch ihre Arbeit. Denn sie begann, sich das Leben schönzutrinken. Vor dem endgültigen Abstieg hatte es noch ein Zwischenhoch in Lauras Leben gegeben. Sie hatte sich verliebt, in Bert, einen Lkw-Fahrer. Eine Zeit lang hatte er versucht, Vaterstelle an Sandra zu vertreten, und dann wurde Vanessa geboren. Sie waren eine richtige Familie gewesen. Doch Laura hatte ihn vertrieben. Ewige Streitereien ums Geld, um Urlaub, um Kleidung, um alles. Am Ende waren sie hier gelandet, in einer von der Arbeitsagentur bezahlten Wohnung in Neuperlach. Und aus der wollte Sandra raus. Sie wollte nicht so enden wie ihre Eltern. Deshalb ging sie zu Fuß, bis sie völlig durchgefroren an dem Mietshaus ankam, in dem Ulf Grätz, arbeitsloser Offsetdrucker und seines Zeichens Lauras aktueller Lebenspartner, wohnte. Es lag in einer der besseren Ecken Neuperlachs, in der die Häuser niedriger, die Grünanlagen gepflegter und die Eingangsbereiche ordentlich geputzt waren. Sandra fuhr mit dem Lift in die dritte Etage und erreichte kurz darauf Ulfs Wohnung. Die Tür stand einen Spaltbreit offen. Einen Augenblick zögerte Sandra, dann klopfte sie an und trat ein.
    Ihr Gefühlszentrum reagierte schneller als ihr Bewusstsein. Ein heißer Schreck wie ein Stromschlag durchfuhr sie. Die Zimmer waren leer geräumt. Eine Tüte voller Müll lag im Flur auf dem fleckigen Teppichboden, Dübellöcher klafften in der Wand, wo die Garderobe gehangen hatte. In der Küche hatten Tisch und Stühle Abdrücke auf dem Linoleum hinterlassen. Fassungslos starrte Sandra darauf. Das kann nicht sein. Das ist nicht wahr . Krampfhaft versuchte sie, das Gefühl der aufsteigenden Panik zu ignorieren, das sich sekündlich verstärkte.
    Aus dem Wohnzimmer hörte sie ein Geräusch. Sie erwachte aus ihrer Starre, vorsichtig öffnete sie die angelehnte Tür.
    Ein wildfremder Mann stand mitten im Raum und sah sie ebenso überrascht an wie sie ihn. Er trug einen dunklen Wollmantel offen über dem Anzug, in der einen Hand hielt er ein Klemmbrett, in der anderen einen Kuli. »Wer sind Sie und was machen Sie hier?« Der Klang seiner Stimme war nicht aggressiv, eher überheblich.
    »Die Tür war offen«, stammelte Sandra. »Wieso ist denn… wo sind denn… der Herr Grätz ist doch nicht ausgezogen?«
    »Sind Sie mit ihm verwandt?«
    »Nein.« Sandra schüttelte den Kopf und versuchte, ihre Gedanken zu sortieren, die wild durcheinanderwirbelten. »Sind Sie der Nachmieter?« Blöde Frage! So wie der aussah, wohnte er in Waldperlach oder Bogenhausen.
    Die Falten auf seiner Stirn schoben sich zusammen. »Ich bin der Hausverwalter. Pflüger.« Er reichte Sandra die Hand. »Und nun verraten Sie mir mal, wer Sie sind und was Sie von Herrn Grätz wollen.«
    »Von ihm nichts. Ich dachte… meine Mutter… also sie ist…« Verdammter Mist! Das konnte sie doch dem Hausverwalter nicht auf die Nase binden. »Ich sollte etwas abholen, das meine Mutter dem Herrn Grätz geliehen hat. Einen MP3-Player.« Etwas Besseres fiel ihr auf die Schnelle nicht ein. »Wohin sind sie… ist er denn gezogen. Haben Sie die neue Adresse?«
    Ärgerlich schüttelte Pflüger den Kopf. »Den Player können Sie vergessen. Sechs Monate mit der Miete im Rückstand und dann macht er sich heimlich aus dem Staub. Aber den Kerl krieg ich. Wäre ja gelacht.«
    Bestimmt lag ein Zettel mit der neuen Adresse im Briefkasten oder ihre Mutter hatte sie auf der Mailbox
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