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Scherbenparadies

Scherbenparadies

Titel: Scherbenparadies
Autoren: Inge Loehnig
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einem netten Freund und einem großen Freundeskreis, mit Reisen, Kino- und Restaurantbesuchen, mit Erfolg im Beruf und Anerkennung vom Chef und den Kollegen. Oder, auf den Punkt gebracht: das Gegenteil von dem Leben, das ihre Mutter Laura führte. Vielleicht werde ich Dolmetscherin oder Reiseleiterin, überlegte Sandra und fuhr aus ihren Tagträumen hoch. Um all das zu erreichen, musste sie jetzt endlich etwas für das Referat tun.
    Sie kuschelte sich mit dem gelben Reclamheft in ihrem Zimmer, das sie mit Vanessa teilen musste, aufs Bett und folgte dem Deichgraf Hauke Haien ans Meer, setzte sich mit ihm an den Strand, starrte in die Brandung und hatte, wie er, die Ahnung einer nahenden Sturmflut.
    Wie lange würde sie noch verheimlichen können, dass sie hier allein lebten, dass ihre Mutter sie im Stich gelassen hatte? Okay, nicht wirklich, nicht so ganz. Aber beinahe.
    So wie das Wasser sich bei einsetzender Ebbe langsam zurückzog, zog auch ihre Mutter sich immer mehr zurück. Anfangs war es nur eine Nacht gewesen, die sie bei ihrem neuem Freund, diesem Vollpfosten Ulf, verbracht hatte. Aus der Nacht war ein Wochenende geworden, dann mehrere Wochenenden und inzwischen ließ Laura sich kaum noch hier blicken. Etwa alle vierzehn Tage sah sie mal nach dem Rechten, was in ihrem Fall bedeutete, dass sie den Kühlschrank mit Lebensmitteln füllte, Wäsche wusch, ein wenig aufräumte und etwas Geld daließ. Beim letzten Mal hatte sie sich mit Lebensmitteln und Geld begnügt. Wenn die Zeit zwischen zwei Besuchen zu lang wurde und das Geld ausgegeben war, suchte Sandra ihre Mutter in der Zweitwohnung bei Ulf auf, um ihr den einen oder anderen Schein zu entlocken. Am besten ging das am Monatsanfang, wenn das Geld von der Arbeitsagentur da war. Normal war das alles nicht. Doch irgendwie waren sie da hineingeschlittert. Auf Sandras Aufforderungen, sich mehr um sie zu kümmern, reagierte Laura jedes Mal gereizt und ausweichend und versuchte, Sandra die Verantwortung für Vanessa aufzuhalsen. »Du kommst besser mit ihr zurecht als ich. Außerdem bist du schon siebzehn, fast erwachsen, da wirst du doch mal auf deine kleine Schwester aufpassen können.«
    Mal ist ja wohl gnadenlos untertrieben, dachte Sandra und legte das Reclamheft beiseite. Es gelang ihr nicht, sich weiter darauf zu konzentrieren. Wenn jemals herauskam, dass Laura sich nicht um ihre Kinder kümmerte… Dieser doofen Tussi vom Jugendamt wäre das gerade recht. Seit Laura damals an einem schlechten Tag Vanessa verprügelt hatte und die Erzieherin im Kindergarten die Polizei eingeschaltet hatte… Wenn Laura getrunken hatte, war sie unberechenbar. Sandra versuchte, die Erinnerungen zu verdrängen.
    Im Moment hatte sie andere Sorgen. In der Geldbörse befanden sich noch neunundsiebzig Cent. Was konnte sie damit zum Abendessen einkaufen und was zum Frühstück und was für die Brotzeit, die sie Vanessa morgen in die Schule mitgeben musste?
    Aus dem Flur erklang Getrappel. Vanessa stürmte ins Zimmer. »Ich bin fertig! Darf ich jetzt zu Ayshe?« Ohne eine Antwort abzuwarten, fügte sie atemlos hinzu: »Guck mal. Ich hab eine Katzenfamilie gemalt. Die Katzenmama und zwei Katzenbabys.«
    Sandra nahm die Buntstiftzeichnung entgegen und ein wenig zog es ihr das Herz zusammen. Für Vanessa bestand eine Familie aus Mama und Kindern. Kein Wunder. Ihre Väter hatten weder sie noch Sandra je richtig kennengelernt. Mit Laura hielt es keiner lange aus. Bis auf Ulf, wie es schien. »Das hast du schön gezeichnet.«
    Vanessa legte den Kopf schief. »Ich will auch eine Katze haben.«
    Sandra seufzte. War das Thema noch immer nicht durch? Unzählige Male hatte sie Vanessa schon erklärt, dass sie kein Geld für Futter und Tierarztbesuche hatten.
    »Ich wünsch sie mir vom Christkind. Dann kannst du nicht Nein sagen und Mama auch nicht«, trumpfte Vanessa auf. »Weil, das Christkind darf nämlich schenken, was es will. Darf ich jetzt zu Ayshe?«
    Ayshe und Vanessa waren seit der gemeinsamen Zeit im Kindergarten befreundet, allerdings gingen sie nun in Parallelklassen. Sandra war froh, ihre kleine Schwester hin und wieder bei der Familie Özcan lassen zu können. Wobei: hin und wieder? Immer häufiger geschah das in den letzten Wochen.
    »Gut. Ich bringe dich hoch und gehe dann einkaufen. Und vergiss deinen Schlüssel nicht.« Doch Vanessa wollte allein gehen. »Ich bin doch kein Baby!« Sandra brachte sie bis zum Lift und wartete, bis er nach oben fuhr. Erst dann lief sie durchs
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