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Scherbenparadies

Scherbenparadies

Titel: Scherbenparadies
Autoren: Inge Loehnig
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natürlich. Angeblich. Im Gegensatz zu dir trage ich keine Labelklamotten, bin aber hübsch. Und schlank.
    Okay, inzwischen ein wenig zu schlank, dachte Sandra. Fünf Kilo hatte sie in den letzten Monaten abgenommen. Einfach so. Von ganz allein. Die Jeans waren zu weit geworden.
    Sandra wandte sich von Maja ab. Sollte die dumme Schnepfe ruhig lästern. Es war ihr egal.
    »Hee. Hallo?« Alina wedelte mit der Hand vor Sandras Gesicht herum. »Warum holt deine Mutter Vanessa nicht ab?«
    Sandra murmelte irgendwas von einem Kurs, an dem Laura teilnahm. Die Arbeitsagentur habe darauf bestanden.
    Mist! Ständig schwindelte sie für ihre Mutter.
    Ein Schulterzucken war Alinas Reaktion. »Du kannst ja nachkommen, wenn du willst. Du findest uns bei Starbucks.« Abrupt drehte sie sich um und lief zu Patrick, der aus dem gegenüberliegenden Klassenzimmer kam. Gemeinsam verschwanden sie in der Menge der Schüler, die zum Ausgang der Joachim-Ringelnatz-Realschule drängten. Sandra würgte den Kloß herunter, der sich in ihrem Hals festgesetzt hatte, schulterte ihre Tasche und machte sich auf den Weg. Schon fünf nach eins.
    Die Luft umfing sie frostig, als sie auf den Platz vor der Schule trat. Zwischen den Hochhäusern der Münchener Trabantenstadt Neuperlach pfiff ein eisiger Wind, der ihr die Tränen in die Augen trieb. Beißende Kälte drang durch die Jeansjacke. Sandra zog sie enger um sich und nahm den Geruch nach Schnee wahr, der in der Luft lag. Es war doch erst Ende Oktober. Hoffentlich ließ der Winter noch auf sich warten.
    Als sie zehn Minuten später bei Vanessas Schule ankam, war sie durchgefroren. Ihre Hände waren vor Kälte steif und ihre Backen sicher ganz rot. Wohlig umfing sie die Wärme des Gebäudes, als sie eintrat und sich nach ihrer kleinen Schwester umsah.
    Vor fünfzehn Minuten hatte hier sicher noch der Bär getobt, doch nun lag die Aula wie ausgestorben vor ihr. Kein Mensch weit und breit. Totenstille.
    Vanessa ging erst seit sechs Wochen in die erste Klasse und hatte sich schon einmal verlaufen, als sie allein nach Hause gehen sollte, deshalb holte Sandra sie ab, wann immer es ging.
    »Vanessa?« Sandra umrundete die Betonsäulen, die die Decke stützten. Ein leises Kichern kam aus dem Flur, der zum Sekretariat führte. Gott sei Dank. Sie war da. Sandra fiel ein Stein vom Herzen. Vor zwei Wochen war ihre kleine Schwester einer streunenden Katze nachgelaufen. Eine Mutter von drei Kindern hatte Vanessa zwei Stunden später weinend in der Nähe der U-Bahn-Endstation gefunden und sie heimgebracht, während Sandra nach hektischer Suche drauf und dran gewesen war, zur Polizei zu gehen. Ein derartiges Chaos aus Panik, Angst, Hilflosigkeit und Schuldgefühlen wollte sie nie wieder erleben! Man konnte tatsächlich vor Angst wahnsinnig werden. Das wusste sie seither. Tausend Filmschnipsel waren durch ihr Hirn geflimmert, was ihrer kleinen Schwester alles zugestoßen sein könnte. Ihr blutüberströmtes Bein lugte unter einem Auto hervor, der aufgeplatzte Schulranzen lag meterweit entfernt. Ein Mann zerrte sie in seinen Wagen. Die Tür schlug zu. Hinter der Scheibe Vanessas schreckgeweitete Augen. Ein muffiger Keller, eine dunkle Gestalt, ein heller Schrei. All diese Schreckensszenarien und unzählige mehr hatten Sandra heimgesucht. Nun war sie froh, das gedämpfte Kichern zu hören.
    Sie lächelte. Auf leisen Sohlen ging sie in den Flur. Die Deckenlampen warfen ein trübes Licht. Linkerhand befand sich ein Mauervorsprung, dahinter lugten Vanessas Schuhspitzen hervor. Vorsichtig schlich Sandra sich an. »Hab dich!«
    »Nein. Ich hab dich!« Vanessa kam wie ein Wirbelwind hinter der Mauer hervorgeschossen. Ihre blauen Augen blitzten, ihr Lachen enthüllte die Zahnlücken, die blonden Locken wippten. Juchzend umarmte sie Sandra und drückte ihr das Gesicht gegen den Bauch. Vergnügt machten sie sich auf den Heimweg.
    Ein paar Minuten später betraten sie das Hochhaus mit zwölf Etagen und weit über hundert Mietparteien, in das Laura vor fünf Jahren, nach der Trennung von Vanessas Vater, mit ihren beiden Töchtern gezogen war. Drei Zimmer, Küche, Bad, Balkon in der fünften Etage. Im Treppenhaus hing ein diffuser Geruch nach exotischem Essen, schweißigen Klamotten, Zigarettenqualm und feuchtem Hund. Einer der beiden Aufzüge erreichte das Erdgeschoss. Sandra fuhr mit Vanessa nach oben, froh, niemandem zu begegnen. Neben netten älteren Ehepaaren, Familien mit niedrigen Einkommen, alleinerziehenden Müttern und
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