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Scherbenparadies

Scherbenparadies

Titel: Scherbenparadies
Autoren: Inge Loehnig
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    Sein Blick suchte ihren, und als er ihn fand, kam es ihr vor wie eine geheime Verständigung. Eine Sekunde der Übereinkunft. Ja, du bist es. Ihr Herz begann, schneller zu schlagen, ihr Atem beschleunigte sich. Das Braun seiner Augen! Die grünen Sprenkel darin, wie Malachit!
    Während sie ganz in seinem Blick versank, drangen die Geräusche der Klasse nur gedämpft zu ihr durch, nahm sie seine Worte kaum wahr, die er an ihre Mitschüler richtete.
    Früher hätte sie jeden belächelt, der tatsächlich glaubte, dass man sich auf den ersten Blick verlieben konnte. Und dann war ihr genau das passiert. Vor sechs Wochen. Am ersten Schultag, als sie Nils das erste Mal sah.
    Er war ins Klasszimmer getreten und alle waren plötzlich still geworden. Alle! Sogar die Jungs der 10 E. Sogar Sami, der sich von niemandem etwas sagen ließ. Schon gar nicht von Lehrern.
    Eine undefinierbare, kaum fassbare Aura umgab ihn und verlieh ihm einfach Autorität. »Ich bin euer neuer Klassenlehrer. Nils Joswig. Deutsch und Sport.« So hatte er sich vorgestellt. Eigentlich hatten sie die Greiner erwartet. Doch die hatte in den Ferien einen Unfall gehabt und würde für Monate ausfallen. Statt dieser frustrierten Kuh sollte nun also Nils Joswig die Klasse bis zur Mittlere-Reife-Prüfung begleiten. Wie unendlich dankbar sie der ollen Greiner dafür war!
    Ach, Nils!
    Er sah so gut aus. So sexy. So sweet! So hot! Athletische Figur, klar, als Sportlehrer… einen süßen Arsch, ein offenes und jungenhaftes Lächeln… das Grübchen am Kinn… dieser Dreitagebart… alles an ihm war einfach nur: Wow! Vor allem seine schulterlangen Locken. Eine Farbe wie altes Messing.
    Bald werden meine Hände darin spielen und du wirst mich ansehen wie jetzt und dann…
    Sein Blick löste sich von ihrem. Die Verbindung zwischen ihnen, die nur einen Moment bestanden hatte, ihr aber wie eine kleine wunderbare Ewigkeit erschien, riss ab. Unwillkürlich richtete sie sich in ihrem Stuhl auf und sah sich verstohlen um. Offenbar hatte niemand bemerkt, dass sie für einige Augenblicke völlig weggetreten war. Erleichtert ließ sie die Schultern sinken. Denn ihre Liebe musste natürlich geheim bleiben. Lehrer und Schülerin! Das war verboten. Idiotisch, als ob man Liebe einfach verbieten könnte. Sie traf einen wie eine unkontrollierbare Macht und veränderte alles von einer Sekunde auf die andere. Einfach alles!
    Gleich am ersten Wochenende nach Schulbeginn hatte sie mit Sven Schluss gemacht. Acht Monate war sie mit ihm zusammen gewesen und nun nervten sie seine Küsse und Zärtlichkeiten nur noch.
    Nils war ein Mann. Sven nur ein Kerl, der auf hart machte. Zugegeben ein ganz netter. Aber seine Zeit war vorbei. Irgendwie tat er ihr sogar ein bisschen leid. Aber es ging nicht mehr. Sie musste frei sein. Sie wollte frei sein. Frei für Nils. Natürlich hatte sie Sven das nicht gesagt. Sie hatte irgendwelche Ausflüchte gesucht und ihm ihre Freundschaft angeboten. Freunde sein war ja auch okay. Oder?
    Sven war darauf eingegangen und dadurch in ihrer Achtung erst recht gesunken. Er hechelte ihr hinterher, in der Hoffnung auf Erhörung. Der Kerl, der Lederklamotten trug, eine Ducati fuhr und schon mal zuschlug, wenn ihm einer blöd kam, mutierte zum Bubi.
    Nils war da ganz anders. Intellektuell und romantisch. Und vielleicht ein wenig zu schüchtern.
    Vor ein paar Tagen war sie wieder mal zu spät dran gewesen. Erst kurz vor halb neun war sie auf den Weg zur Schule eingebogen. Eigentlich hatte sie keine Lust gehabt, jetzt da reinzugehen. Mathe! Zögernd war sie am Rande des Lehrerparkplatzes stehen geblieben und hatte eine verblühte Heckenrose aus einem Busch gepflückt. Die Blätter waren schon verwelkt, die braunen Ränder hatten sich eingerollt. Sterbende Natur. Alles war endlich. Alles starb irgendwann. Auch sie. Hoffentlich erst, wenn sie steinalt war. Dann würden Würmer ihren Körper auffressen und am Ende würde sie zu Erde geworden sein. Doch bis es so weit war, würden Nils und sie glücklich sein. Dieser Gedanke war wie ein Sonnenstrahl in diesem grauen Tag. Spontan steckte sie die Rose hinter den Scheibenwischer von Nils’ schwarzem Mini.
    Nach Schulschluss stand sie wieder am Rande des Parkplatzes. Inmitten einer Gruppe von Mädchen aus ihrer Klasse fiel sie nicht auf. Es war schon zehn nach eins, als Nils endlich kam. Er sah so lässig aus, trug coole Levis, eine trendige schwarze Jacke und eine Strickmütze, unter der die Locken hervorquollen. Als er den
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