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Scherbengericht: Roman (German Edition)

Scherbengericht: Roman (German Edition)

Titel: Scherbengericht: Roman (German Edition)
Autoren: Germán Kratochwil
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und Messiaen abmühte – machte keinen Hehl daraus, dass sie Kathas »Sexbuch« geschmacklos fand. Nur Martin sprach von einem »jugendmutigen Wurf« und vom »wirklichkeitsnahen Bild des Hochschulmilieus von Buenos Aires«.
    Unmittelbar darauf hatte sich die Tochter in ihre Diplomarbeit über Alterserotik in der Großstadtkultur gestürzt. Ein tatsächlich ausgefallenes, aber fruchtbares Thema in der Flut konventioneller Arbeiten über Kinder-, Jugend-, Migranten- oder Frauenproblematik in den Megastädten. Sie schloss mit Erfolg ab, wandte sich jedoch, wie immer unstet und abrupt, der Primatenforschung zu – einer Biosoziologie der Gorillas. Erst Dr. Königsberg hatte ihn später auf den Gedanken gebracht, dass ihr wohl die letzten, blutigen Momente im Leben von Dian Fossey vorgeschwebt haben mussten: Sie sieht einen als Gorilla verkleideten Eindringling in der Hütte der Primatologin erscheinen und muss der Vergewaltigung und Ermordung beiwohnen. In ihren Halluzinationen fließe die Vorstellung der letzten qualvollen Momente von Dian mit dem Bild der im Luxusauto zerbrochenen Diana zusammen.
    Welch scheinheilige Selbstbeschränkung – warum hatte er nicht gleich zwei Flaschen von diesem patagonischen Pinot Noir mit in die Nacht hinaus genommen? Wie sollte er die traurige Rolle des zum Krankenwärter gewordenen Vaters ertragen: Die lastete nun auf ihm, trostlos und »trocken«. Kathas Einsamkeit könnte bald absolut sein, fühlte er. Auch ich, der sie ständig begleiten will, bin jederzeit kündbar. Das darf ich nicht zulassen. Sie hat doch früher einen frohen Freundinnenkreis gehabt, in dessen Treffen es um Reisen, Mode, Kosmetik, biologische Gourmetrestaurants und knackige Männerpos ging. Heute Nachmittag aber hatte sie ihr Handy auf einer Brücke aus dem fahrenden Auto geworfen; es rief ja niemand mehr an, es wird sie ja auch niemand mehr anrufen, und sie selbst wird auch nicht mehr zum Handy greifen. Allerdings hatte sie dann auch sein Gerät blitzschnell und lachend dem ihren nachgeschleudert.
    Katha darf er nicht hintergehen. Sie meinte sicherlich, dass er sie ernst nehme; sie musste sich erinnern, dass er sie immer ernst genommen hatte. Wie hatten sie es genossen, dass ihre akademischen Interessen sich überkreuzten! Oft hatten sie stundenlang Aufsätze oder Vorlesungen zerpflückt, durchdiskutiert – bisweilen recht heftig. Könnte ihr jetzt dämmern, was ganz allmählich an Schrecklichem einzutreten beginnt, sobald einem die Kompetenz und die ernst zu nehmende Persönlichkeit aberkannt wird? Gibt es etwas Schlimmeres für einen Menschen als diese ständig sorgenvollen, verunsicherten Blicke der vermeintlich Gesunden – selbst auf ganz normale Handlungen hin, von denen aber gemutmaßt wird, dass sich darin die Krankheit verrate. Diese Aberkennung, da sie doch von einer neuen Wahrheit erfüllt war! Er wollte ihr versichern, dass er sie gerade in seinem eigenen radikalen Selbstzweifel fürs Leben ernst nahm, todernst. Ja, Katha, das werde ich … Er spürte den Wunsch, aufs Zimmer zu eilen, um es ihr zu sagen, auch wenn sie es gar nicht verstehen würde – dies, dass er sie todernst nahm.
    Auf den Dinosaurierwein hin – er leckte noch einen Tropfen vom Flaschenmund – bemächtigte sich seiner eine geradezu kreidezeitliche Erschöpfung. Er stieg aus. Um im Badezimmer kein Geräusch und kein Licht machen zu müssen, pisste er in den Schotter. Dann unterwarf er sich seiner Disziplin und zerrte das Notizheft aus der Brusttasche. Die Ellbogen auf die warme Motorhaube gestützt, im matten Neonlicht, das vom Motel herüberfiel, konnte er gerade noch erraten, was er da kritzelte.
    Puerto Pirámides, 30/12/1999. Nachts, kühl, alle Aromen des Meeres. Erschlagen nach 1200 km Asphalt, widerlichem Rosé u. nur einer Flasche Pinot Noir. K. hat ihr Handy u. meins aus dem Fenster geschmissen u. gejubelt: Jetzt sind wir frei! Ansonsten auffällig gefasst, entschuldigt sich wegen des Umwegs hierher, wirft ängstlich-prüfende Blicke auf mich. Königsberg rotiert in mir wie ein aufrührender, aber reinigender Geist. Ohne ihn wäre mir nie bewusst geworden, dass mein logisch aufgebautes Selbstbild aus einem Sumpf der Fragwürdigkeiten wächst. Nicht Wissenschaft oder Philosophie – nur Wahnsinn klärt uns auf! Wir leben in Cartoons, denken u. sprechen in Blasen, die dann platzen – u. nichts ist mehr da. Meine Rolle im Mapuche-Projekt: sinnlos! In dieser Hinsicht ist es wohl aus mit mir, bin ich zerpulvert. Furcht
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