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Scherbengericht: Roman (German Edition)

Scherbengericht: Roman (German Edition)

Titel: Scherbengericht: Roman (German Edition)
Autoren: Germán Kratochwil
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Argentinien-Besuchs aufgesucht hatte.
    Just vor jenem Abschnitt der Küste Patagoniens, wo im 19. Jahrhundert die Einwanderer aus Wales ihre Siedlung errichtet hatten, paarten sich alljährlich die Glattwale. Hier wurden ihre Jungen geboren und gestillt, und hier war ihr Kindergarten. Zwei Jahre vor ihrem Unfalltod hatte die Princess of Wales die Wale besucht und anschließend in der walisischen Kolonie eine Tasse Tee zu sich genommen. Die Teestube in Gaimán, die schon kurz danach zu einer Sehenswürdigkeit avanciert war, hatte sich nach dem Autounfall in Paris in eine Art Wallfahrtsstätte der Lady-Di-Fans aus aller Welt verwandelt. Der Chefpsychiater in der Klinik in Buenos Aires meinte, eine Begegnung Kathas mit der Wirklichkeit des Naturschauspiels im Golfo Nuevo und dem voraussichtlichen Kitsch der Andachtsstätte könnte womöglich dazu beitragen, ihren Realitätssinn zu reaktivieren. Schließlich war Katha studierte Biologin und hatte ihre Diplomarbeit auf dem von ihrem Vater beackerten Gebiet der Biosoziologie geschrieben. Und mit einem ersten, »überraschend reifen« schriftstellerischen Versuch, dem schmalen Roman Ceremonia bastarda , war sie von den Veteranen der Literaturseiten als mögliche Wiedergängerin der längst vergessenen Fran ç oise Sagan gefeiert worden.
    Welch ein junges und schon so erfüllt wirkendes Leben, dachte Martin. Der Rückblick war für ihn besonders schmerzhaft. Vor nur vier Jahren, zwei Jahre vor dem Diplom, hatte sich Katha während der Semesterferien auf die Estancia einer verwitweten Tante zurückgezogen und in einem Zug klammheimlich einen Briefroman verfasst. Er handelte von der Affäre der einundzwanzigjährigen Studentin Karin in Buenos Aires mit dem vierzig Jahre älteren Gastdozenten der Bioethik Tarsilio S. aus São Paulo. Ein wildes Hin und Her der Leidenschaften und der Flüge. Schließlich aber kapituliert der brasilianische Professor ganz banal vor dem Ultimatum seiner Ehefrau und beschließt, sich von Karin zu trennen. Dies geschieht an einem von den beiden kühl inszenierten, gewollt romantischen Abschiedswochenende in einem Bungalow im Delta des Rio Paraná. Beide spielen mit einer Mischung aus Leidenschaft und ironischer Selbstbeobachtung ihre Rollen. Katha hatte das (zumindest in den Augen ihrer Familie) schockierend deutlich beschrieben. Nach viel Koitus und intellektueller Diskussion im Gewölk der Joints gehen Karin und Tarsilio S. schließlich erschöpft und cool auseinander – an einem Bootssteg, unter Trauerweiden.
    Die saloppe, um nicht zu sagen steile These von Karin/Katha: Eine Frau wisse, dass sie bis zur Lebensmitte ihre zentrale biologische Aufgabe weitgehend abgeschlossen haben müsse. Sie durchlebe diese erste Phase also sehr bewusst, bis hin zur Reproduktion oder einer anderen Variante, und könne sich in ihr unbeschwert irren und verwirren, denn sie habe ja noch eine vollwertige zweite Phase vor sich, die sie, gereift und klüger geworden, dann neu gestalten könne und in der sie gewiss besser fahren werde als in ihrer ersten. Der alternde Mann hingegen habe von diesem Übergang nur eine diffuse Vorstellung, er meine, dass Lebensphasen für ihn nicht gelten würden; also trotte er einfach weiter und täusche sich mit einer Jungen über seinen anbrechenden Verfall hinweg. Damit mache er sich aber nur lächerlich, denn die Lebensklugheit überwiege bei den Frauen. Der Jüngeren nütze dieser alte Gockel, der sich für unwiderstehlich hält: Durch ihn lernt sie schon im Voraus allerhand über das Altern der Männer, was ihr in ihrer zweiten Phase dann hilfreich sein kann.
    Nur machte sich die Autorin weniger als Theoretikerin denn dank der erotischen Drastik ihrer Erzählung einen Namen. Martin fiel die Passage des briefschreibenden Tarsilio S. ein, in der er sich vergegenwärtigt, wie »Karinha« auf amazonische Art sein erigiertes Glied mit langen dunkelroten Streifen ihres Lippenstifts bemalt – und wie erdbeerrot ihre Scham hinterher geglänzt habe! Auf dergleichen war die zugeknöpfte Holberg-Sippe nicht vorbereitet gewesen. Da schlägt das jüdische Element durch, meinte die erzkatholische Tante Leticia. Auf ihrem von Eukalyptushainen umstellten Landsitz bei Venado Tuerto habe Katha sie hintergangen, nämlich unterm Sonnenschirm am Swimmingpool nicht, wie vorgegeben, Wissenschaftlich-Akademisches in ihren Laptop getippt, sondern diesen pornografischen Schund. Selbst Judith – die geliebte Mutter, die sich heroisch mit Skrjabin, Ginastera
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