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Scherbengericht: Roman (German Edition)

Scherbengericht: Roman (German Edition)

Titel: Scherbengericht: Roman (German Edition)
Autoren: Germán Kratochwil
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Gestirne, die dieses dominante Sternbild zeichnen. Man kann es von beiden Hemisphären aus sehen, aber hier, über der südlichen Hälfte des Planeten, steht der Schönling auf dem Kopf. Hinter der westlichen Silhouette der Kordilleren, deren Masse des Nachts nicht aufstrebend, sondern zusammengesunken wirkt, vermeinte er einen blassen Schimmer wahrzunehmen, als ob der nahe Pazifik noch gespeicherte Tageshelle abstrahlte. Er wandte sich um und sah über dem hohen Schatten der Piltriquitrón-Wand das vertraute Sterngeviert des »Kreuz des Südens«. Wie verständlich, dass die Menschen sich die Sternbilder ausgedacht haben: Sie vermitteln ihnen so etwas wie Ordnung und Wegzeichen auf ihrer ziel- und grundlosen Reise durch das glitzernde Chaos. Soll das ein Wegkreuz sein, das ins Gelobte Land weist? Den gesegneten Ort, den ich für Katha und mich suche? »Das steht in den Sternen«, wie man so sagt. Nur, hier unten, im patagonischen Tilo-Hof, liegt diese Zuflucht bestimmt nicht. Wie absolut, ja absolut gleichgültig dieses ganze Szenario unseres Umherirrens uns doch umgibt, wie es sich in lichtlosen Tiefen, im Rauschen, im Schimmern und Funkeln, in scheinbaren Wegmarken und Schönheiten doch nur auf sich selbst bezieht! – Wie anders bei den Mapuches, denen die Natur und ihre Lebensgemeinschaft noch Eins waren.
    Im hellen Mansardenfenster sah er Bewegung, glaubte er die Umrisse Mirtas zu erraten. Sie mochte ihn beobachten. Also winkte er hinauf und ging eilig auf sein Zimmer zurück.
    Unter der Lampe erwartete ihn das aufgeschlagene Heft. Er trank den Wein aus, beugte sich widerwillig über das Papier, und seine innere Abwehr ließ ihn halluzinieren. Da flimmerten Gestalten wie Phantome hinter der Pupille, zogen über das leere Blatt, ruckartig gestikulierende, schmausende Gäste um einen gedeckten Tisch; wie die Vorführung eines zerschlissenen Stummfilms mit greisen, alten, jungen, kindlichen Gesichtern, kalkweiß mit schwarzen Konturen, die ausgelassen grimassieren, kauen, trinken, zappeln. Da saßen der tote Grillmeister an dem einen und der Psychiater am anderen Ende der langen Tafel. Auf der einen Längsseite waren der Himmler-Fan, die Gattin des Seelenarztes, der Zahntechniker mit seiner Sabra-Frau und er selbst platziert; und ihnen gegenüber sein Sohn, seine Tochter, die lachende Wirtin und die neunzigjährige Jubilarin. Was wiederholte Mamas mechanisch auf- und zuklappender Mund? »Es ist mein letzter erster Jänner«? Das wussten sie doch alle. So wie in dieser Geisterbahn würden sie nie wieder beisammensitzen; es war schon gespenstisch genug – und nur möglich geworden, weil alle sich blindlings einer Utopie unterworfen hatten. Das hatte Gabriel wohl durchschaut, als er uns bei Tisch so wütend und erbarmungslos sein Manifest des Unerwünschten ins Gesicht schmetterte – uns Unerwünschten, Zwiespältigen, Diskriminierern und Diskriminierten, Ausgewanderten, Ausgewiesenen, Ausgegrenzten, Vetriebenen, Verschollenen, Verschütteten, Untergetauchten. Ist irgendwann Schluss damit?
    Martin begann nun einfach zu schreiben:
    An diesem Neujahrstag 2000, am frühen Nachmittag, als wir Asado u. Dessert, Festreden u. allerlei Konfliktstoff aus Anlass von Mamas Neunzigstem hinter uns gebracht hatten, hat sich Treugott Lagler erhängt. Über die Ursachen will ich nicht spekulieren. Mir soll für diesen Tod einfach gelten, was meine Kinder K. u. G. vom Am-Leben-Sein halten – von seiner Fragwürdigkeit, ja der Schuld, die Judith u. ich uns ihnen gegenüber aufgeladen haben. Mama war tief erschüttert, hat aber Haltung bewahrt. Um über die schwierige Begegnung mit G. u. mit den Gästen zu schreiben, ist es jetzt schon zu spät geworden; u. erst recht, um mich zu fragen, wie es mit K. u. mir weitergehen soll.
    Er zog die Zimmertür einen Spalt breit auf, warf die Kleider ab und legte sich erwartungsvoll aufs Bett.
    Nicht Mirta – das Morgenlicht weckte ihn aus einem traumbewegten Schlaf. Im Fenster stand schon ein Stück blauer Himmel; eine schwache Spur Lindenblütenaroma, durchhaucht von säuerlichem Weindunst, lag im Raum. Als er sich der Tür zuwandte, war ihm, als entwischte durch den Spalt eben noch ein Zipfel des Traumgeschehens wie eine forthuschende Maus – und Quiques Zustand von gestern Abend fiel ihm ein.
    Aber jetzt beherrschte ihn erst einmal die Lust auf ein kräftiges Bauernfrühstück. Ob das, ohne Rotraud, wohl noch zu bekommen war?
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