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Scherbengericht: Roman (German Edition)

Scherbengericht: Roman (German Edition)

Titel: Scherbengericht: Roman (German Edition)
Autoren: Germán Kratochwil
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Beurteilten fragen konnte, begann Quique zu berichten, dass unten im Ort der Hantavirus ausgebrochen sei; er musste Katha die Seuche erklären und ließ keine Einzelheit aus, vom Kotzen bis zum unhemmbaren Dünnschiss. Dann erzählte er ihnen noch, er habe vorhin hier, auf dem Tilo-Hof, in der Schlachtkammer eine Maus gefangen. Er habe sie aufgeschnitten und ihr die virusvergifteten Innereien herausgerissen. Ob sie Mäuse schon unter Schmerzen habe schreien hören? Er habe das in vielen Experimenten beobachtet: Es komme zu einem ganz hohen Quietschen, scheinbar an- und abklingend, weil es in Frequenzen überwechsle, die unser Gehör nicht mehr wahrnehmen könne. Heftigste und zugleich unhörbare Schmerzensschreie – seltsam, nicht wahr?
    »Schluss damit, Quique! Hör auf!«, riefen Clementine und Katha fast gleichzeitig. Und Katha, die sich demonstrativ die Ohren zuhielt, setzte hinzu: »Diese armen Tierchen! Ich liebe die kleinen süßen Mäuschen.« Und es kam ihr vor, als sähe sie das Mäuseblut an den cremeverschmierten Fingern, mit denen sich Quique die letzten Tortenbissen in den Mund stopfte. Im Gegensatz zu seinem großen Kopf fiel ihr dabei die Zartheit seiner verdreckten Hände auf.
    »Wenn sie dir den Hantavirus hinpissen und hinkacken, dann beginnst du zu kotzen, ist es aus mit dir«, stellte er fest. »Dafür ist keine Strafe schwer genug. Wenn es dich erwischt, kannst du dich gleich aufhängen; die Schmerzen sind eine Folterqual.« Er steckte die zierlichen Finger in sein Froschmaul und schleckte die letzten Cremereste ab.
    »Junge, wie grässlich, versau mir nicht auch noch diesen Tag!«, beklagte sich Clementine. »Ich weiß, Papa und Mama haben dich heute sehr schlecht behandelt, darum bist du so wütend. Warum hast du nicht mit uns gegessen? – Dein Vater hat etwas gegen dich. Ich hab das schon in der ganzen letzten Zeit bemerkt. Es liegt ständig eine Verstimmung zwischen euch in der Luft. Du bist doch schon ein großer Junge, ihr solltet euch versöhnen – im neuen Jahr versöhnen. Was meinst du?«
    »Ach was, Quique, hau lieber ab«, riet ihm Gabriel. »Dein Vater und deine Mutter werden dich immer unterdrücken. Sie wollen dein Ureigenstes vernichten. Der Vater zerbricht dich, die Mutter klebt die Scherben wieder mit Süßigkeiten zusammen, aber falsch herum – und so immerfort. Später einmal wirst du sowieso den Hof erben, dann machst du, was du willst, bringst einfach alle Mäuse um. Gegenwärtig bist du für deine Erzeuger nur ein verhasstes Haustier.«
    »Mein Vater ist schon tot.«
    »Unsinn«, erwiderte Gabo. »Weißt du, so etwas habe ich mir auch immer wieder einreden wollen. Aber diese Einbildung hilft dir nicht – denn dann ist er doch wieder da, höchst lebendig, der Unterdrücker, und macht dich zur Sau.«
    »Kannst du nicht endlich den Papa in Ruhe lassen, Gabo!« Katha kniff hinter Clementines Rücken wütend in Gabriels Schulter. »Er ist ein ganz anderer Mensch geworden auf dieser Reise. Hast du das denn nicht bemerkt! Er will nur unser Bestes. Du bist maßlos ungerecht!«
    »Genau das ist es ja, was wir besprechen müssen, Katha – deine Unterwürfigkeit, aber nicht hier, neben der Mutter des geliebten Genies. Oma, damit du es schon einmal genau weißt: Ich hasse deinen Sohn! Und ich habe meine Gründe.«
    Während des Zankens der Geschwister hatte Clementine ihr Gesicht wieder zur dunklen Baumkrone hinaufgerichtet, und suchte, neben den geschmacklosen Luftballons, etwas im Labyrinth des Geästes. Unverändert schwärmten die Insekten und schwirrten die Vögel. Sie murmelte in angestrengter Enthobenheit: »Olga … Elias hatte recht, es ist eine Cellosaite, was da anklingt, es ist tatsächlich d-Moll!«
    Als sie dabei den Kopf wieder senkte, sprang Quique an ihrer Seite hoch, stach mit einer Dessertgabel blitzschnell in zwei Luftballons, sie platzten, es krachte verhalten, wie zwei ferne Schüsse, und war sofort verschwunden, so wie alle anderen verschwunden waren – außer den Enkeln, die sie von beiden Seiten bedrängten. Größte Verblüffung, dann das kurz aufbrausende Geschrei der Vögel und wieder der Cello-Ton.
    »Der Kerl ist krank«, bestimmte Clementine, überhörte den Einwurf Gabos, »nein er wird unterdrückt!«, und fuhr fort, »aber weg mit dieser entsetzlichen Szene! Könnt ihr euch noch erinnern, dass euer Großvater leidlich gut die Sarabanden auf dem Cello gespielt hat? Alberto ist wirklich ein feiner Mensch gewesen, wenn man sich heute so umsieht.
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