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Scherbengericht: Roman (German Edition)

Scherbengericht: Roman (German Edition)

Titel: Scherbengericht: Roman (German Edition)
Autoren: Germán Kratochwil
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einem Sofa in der selten benutzten guten Stube der Laglers. Neben dem Sofa stand der geschmückte Weihnachtsbaum, durch dessen Zweige sich bunt blinkende Lichtergirlanden zogen. Gesprochen wurde wenig. Im Fernseher lief ohne Ton der Discovery Channel: rasende Motorräder in der Mojave-Wüste, Bakterien im Darm, Elefantenherden in Afrika, die immer von links nach rechts über den Bildschirm trotteten, und Gazellen, die von rechts nach links sprangen. Katha war bald eingeschlafen – oder hatte sich zeitweise schlafend gestellt. Es war ihm vorgekommen, als bedeutete es für Her Royal Highness eine Erleichterung, von Treugotts »tragical decision« in Bennys Sprache berichtet zu hören, als wäre dieser Entschluss nicht hier, auf dem Tilo-Hof getroffen und vollstreckt worden, sondern, ins Englische transponiert, irgendwo an einem fernen Ort ihres Commonwealth. Auf jeden Fall aber stand für sie fest, dass Treugott Lagler den Einflüsterungen der internationalen Gehörfolterer zum Opfer gefallen war.
    Zwischendurch war Katha von Traumbildern aus dem Schlaf gerissen worden und hatte sich beklagt: »Pa, wir haben dieses Jahrhundert in einem Plastiksack bestattet – wie andere Jahrhunderte in Hanf, in Segeltuch, in Fellen; in der Steinwüste, auf Hoher See, im Ewigen Schnee, eingemauert, versenkt, verscharrt. Und dabei haben wir immer die Besten verloren.« – »Ja, die Besten«, gab er beruhigend zurück – und hatte zugleich ein unbestimmtes, nicht zu ortendes Empfinden von kantigen Konturen unter der alles verhüllenden Zeit. »Und die Übelsten ziehen mit ihrem Hund davon und werden einundneunzig oder hundert Jahre alt«, murmelte Katha noch. »Richtig, die Übelsten sind unsterblich«, stimmte er ihr zu. Später verlangte sie schlaftrunken nach einer kultrún : »Ihr seid mir alle wieder aus dem Rhythmus gefallen!«, klagte sie.
    Darauf erklärte er den beiden Israelis das kultische Instrument der Mapuche und erzählte ihnen von dem tumultuösen Treffen mit den Stammesvertretern am gestrigen Abend. Das verschaffte den beiden etwas Ablenkung – doch, wie sehr ihnen allen gerade jetzt Elias fehlte! Er verspürte Durst und hätte sich gerne ein Glas Wein geholt, vor diesen dreien aber ging das einfach nicht. Und Hunger meldete sich ebenfalls – ein der späten Stunde entsprechendes Bedürfnis, das hier offenbar sonst niemand mit ihm gemein hatte. Schließlich brachen Sendestörungen im Fernsehen aus. Es zerriss karibische Manatís in flirrende Streifen, aufblinkende Gesichter versanken in einem Flimmermeer. Die Krohns standen auf. Eine Gute Nacht wünschte man einander nicht. Ein Seufzer, ein Handdruck genügten. Martin schaltete den irr gewordenen Apparat aus. Sogleich spiegelten sich die Blinklichter des Weihnachtsbaums auf der Mattscheibe.
    Katha hatte ihn gebeten, bei ihm schlafen zu dürfen, aber Martin hatte sie überzeugen können, dass es besser sei, bei der Oma zu bleiben. »Wir dürfen sie nach diesem Unglück nicht so allein lassen, Katha. Du kannst dir nicht vorstellen, wie innig sie mit den Laglers durch all die Jahre verbunden ist und was ihr der gute Treugott bedeutet hat.« Er hatte zwischendurch einmal kurz bei Mama vorbeigeschaut. Da war sie immer noch im Korbstuhl gesessen, ihr Gesicht bemüht, einen Ausdruck von Enttäuschung und Entrüstung nicht verfliegen zu lassen. Der aufgeschlagene Band von Weinhebers Gedichten lag auf ihrem Schoß. Sie deutete auf das Buch. »Der ist auch in den Freitod gegangen, aber das war der Heldentod eines Getreuen, der sich zwischen dem Untergang des Reiches und den Roten entscheiden musste › …doch Dauer hat der Tod‹ «, begann sie den Dichter zu zitieren, » ›Die Vergeblichkeit hat Dauer. Dauer hat, die uns hüllt, die Nacht. Zu fragen ziemt uns nicht. Uns ziemt zu fallen; jedwedem auf seinem Schilde.‹ Davon kann bei Treugott ja nicht die Rede sein, nicht wahr? Der hat sich doch einfach aus Hirnverbranntheit umgebracht.«
    Martin war nicht darauf eingegangen, aber er hatte ihr Kathas Gesellschaft angeboten. Darauf hatte die Mutter nichts erwidert und nur geklagt: »Das hätte mir der Kerl nicht antun dürfen«, und wiederholt, dass dies ihr »letzter erster Jänner« gewesen sei. Trotzdem begleitete er jetzt Katha zu ihr. Die Mutter lag schon im Bett. Es war das breite Bett, in dem sie viele Sommer mit Martins Vater geschlafen hatte. Ihre Lippen hingen in die Mundhöhle hinein, sie hatte vor dem Einschlafen das Gebiss herausgenommen. »Na, Kind, dann
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