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Scherbengericht: Roman (German Edition)

Scherbengericht: Roman (German Edition)

Titel: Scherbengericht: Roman (German Edition)
Autoren: Germán Kratochwil
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im Dorf bevorzugt, denn der Speisesaal war leer. Aber Martin wollte Katha nicht einer lachenden, schmatzenden, eng zusammengerückten, rundum genießenden Touristengruppe aussetzen. Sie hatte die Klinik erst vor zwei Tagen verlassen.
    Der Saal des Motels war offensichtlich ein Mehrzweckraum. An der schmalen, fensterlosen Seite stand auf einem Podest ein altertümliches Schlagzeug samt Keyboard, Mikrofon und zwei abgestoßenen Boxen, und am Boden lagen verknäulte Kabel herum. Ringsum an den Wänden hingen die bleichen Gebeine der Wale sowie Vergrößerungen eindrucksvoller Aufnahmen. Die Bilder zeigten machtvoll aus dem Meer hervorbrechende Glattwale, aber auch gestrandete Kolosse, im Sand sterbend oder wohl schon tot, denn die Herumstehenden hielten sich Taschentücher vor die Nase.
    Martin setzte sich sofort an einen Tisch, aber Katha war vor einer Vitrine stehen geblieben, in der die historischen Werkzeuge des Walfangs und der Walverarbeitung gezeigt wurden: Harpunen, riesige Speckmesser, Pieken, Haken, Speckgabeln, Schöpfer, Flenserschuhe mit Schneidemessern. Die Ausstellung war offenbar vom Whale Conservation Institute gestiftet worden. »Total abscheulich«, bemerkte Katha, als sie an den Tisch kam. »Hast du gewusst, dass man in neuerer Zeit gezinkte Harpunen benutzt und mit einer Kanone abfeuert? Beim Einschlag öffnen sich vier Widerhaken und am Körper des Wals explodiert eine Sprengladung. Dazu eine Variante: eine scharf zugespitzte Granate, die tief eindringt und dem Opfer ein Riesenloch reißt. Diese Hurensöhne!«
    Martin war froh, dass sie jetzt mit dem Rücken zur Vitrine saß. Als das Essen kam, pickte sich Katha nur ein paar Endivienblätter vom Teller und nahm keinen Bissen von ihrem Seelachsfilet. Da sie nach dem Duschen in aufgekratzter Stimmung gewesen war, hatte sie bei der Bestellung auf einer Flasche Rosé bestanden und kippte sogleich zwei Gläser hintereinander. Martin sah sich gezwungen, sein eigenes schnell zu leeren und sich von dem süßlichen Wein, den er nicht mochte, eilig nachzuschenken.
    »Wir hätten uns in dieser Sache längst engagieren müssen«, erregte sich Katha, während sie ihn missbilligend beim Zerteilen, Aufspießen und Kauen beobachtete. Auf ihrer hellen, sommersprossigen Gesichtshaut waren ein paar rote Flecken entstanden. Sie wühlte wie verzweifelt mit der Linken in ihrem rotblonden Haar. »Deine ehrwürdige Familie ist seit fast hundertfünfzig Jahren in diesem Land aktiv. Sie hat sämtliche Schweinereien – gegen Indios, gegen Tiere, gegen die Natur – geduldet, vielleicht sogar mitgemacht und auf jeden Fall ihren Dividenden-Anteil eingestrichen oder so. Aber du hast mir ja schon bei den Gorillas nicht geholfen. Das war nicht fair, master. Lady Di hat sich total und ohne jede Berührungsangst für die verstümmelten Kinder in Afrika einsetzen dürfen, für die Opfer der Tretminen. Und wir, heute, hier?«
    Martin konzentrierte sich auf sein Lachsfilet. Nicht widersprechen, nicht richtigstellen, nicht recht haben wollen! Damit befolgte er den Rat des Psychiaters Dr. Elias Königsberg. Aber schweigen war vielleicht auch nicht das Beste. Katha hob die Stimme, ging zum Angriff über: »Du verblasst übrigens immer mehr! Deine Züge fließen auseinander. Ja, ich kann dich kaum noch erkennen. Du wirkst grau, konturlos, verwaschen – wie auf einem alten T-Shirt. Ist doch irre! Wer bist du eigentlich, man?«
    Ein müder Oldtimer mit grauem Haar und grauem Bart. Sie hatte ihn schon einmal mit dem späten Julio Cortázar verglichen. Nichts dagegen: Viel lieber wäre er der große, skurrile Erzähler mit dem verwilderten Bart und dem Grübelblick im faltigen Jünglingsgesicht gewesen – statt dieses Phantombild jetzt, das Katha von ihm zeichnete. Doch nein, nur kein Wort des Widerspruchs, die Lawine könnte losbrechen. Nur mit naiver Verwunderung in dieses schöne, von innen her aufleuchtende und sich dann wieder erschreckend verdüsternde Gesicht schauen. Das lindert ihre Spannung, ja es beruhigt sie vielleicht. An ein Dessert oder an Kaffee war nicht mehr zu denken. Bei ihrem hastigen Verlassen des Speisesaals wandte Katha sich mit Nachdruck von der Vitrine ab.
    Im Jugendzimmer setzte Martin sich auf eines der Betten und zog seinen Laptop und Arbeitspapiere aus der Reisetasche. Musste es sein, dass Katha vor dem Schlafengehen so sorglos herumlief, nackt bis auf ihr zart durchbrochenes Höschen? Kleine Brüste, die an seinem Gesicht vorüberwippten. Er entdeckte das
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