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Scherbengericht: Roman (German Edition)

Scherbengericht: Roman (German Edition)

Titel: Scherbengericht: Roman (German Edition)
Autoren: Germán Kratochwil
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es dir denn sonst?«
    »Na weißt du, der Lindenbaum steht wieder in voller Blüte, Martin … Herrlich, dieser Duft! Das ist keine Zimmerlinde. Siegmund Rohr, der alte Filou, kommt zum Fest, die Ciriglianos auch, Elias und Gretl sind ja schon hier – und, zum ersten Mal, ein Ehepaar Krohn.« Sie senkte die Stimme, sodass Martin sie nur mit Anstrengung verstehen konnte. »Weißt ja eh – Gretls Neffe. Der Zahntechniker. Aus Israel. Aber sehr nette Juden. Nur, die Frau versteht blöderweise kein Wort Deutsch.« Und gleich darauf wieder ziemlich laut: »Dein Sohn Gabriel wird dieses Mal wie ein Erzengel auf seinem Drachen vom Himmel herunterschweben – das hat er mir versprochen. Und der gute Treugott wird uns wieder das traditionelle Lamm zubereiten. (›Das Lamm muss ich erst noch schlachten!‹, hörte Martin den Farmer aus der Tischrunde herüberrufen.) Seine Rotraud sorgt für die Mehlspeisen und Salate – und unser weiser Dr. Königsberg wird natürlich zu allem seinen Senf geben.«
    Wieder Schweigen, Walzer, Gekicher. Sie hat sich wohl der Tischrunde zugewandt, dachte Martin – und erschrak, als er die Mutter wutbebend in sich hineinsprechen hörte: »Ja, Fickramichel!« Es kam unterdrückt aus der Hörmuschel, leise, doch ganz real, und nochmals, falls er an der Unflätigkeit gezweifelt haben sollte: »Fickramichel!« Ein Kehllaut, wohl nur für ihn hörbar. Und dann verstand er, was die Mama so außer sich gebracht hatte, denn sie kommandierte laut: »Rotraud, dass du mir ja nicht den Läufer rausschmeißt, zähl noch einmal!« Es klickte. Clementine Holberg hatte ihren Sohn vergessen und einfach aufgelegt.
    Martin rief nicht wieder an – er wollte das Mensch ärgere Dich nicht kein zweites Mal unterbrechen. Wie er diese Abende auf dem Tilo-Hof doch kannte! Anfangs roch es in der großen Wohnküche immer noch nach dem abgeräumten Abendessen, nach deftiger Südtiroler und böhmischer Kost, oder nach Rotrauds patagonischen Varianten, und bald darauf duftete es nach Pfefferminztee, den die vom Lachen geschüttelte Wirtin den Gästen braute, »zur besseren Verdauung«, wie sie ihnen versicherte und dabei anzüglich ihren Steiß nach hinten reckte. Da saßen sie dann alle zusammen: Treugott, der Bergbauer mit seinem Fidel-Castro-Spleen; Elias Königsberg, der greise Psychiater und Weltmann mit seiner oft händeringenden Ehefrau Gretl; und Mutter Clementine, herrisch die Spielszene überwachend. Er versuchte, sich seine Katha in diese Runde hineinzudenken – oder auch Gabriel, den Sohn, der vor zwei Jahren ohne ein Wort des Abschieds die Wohnungstür hinter sich zugeschlagen hatte und seither nichts mehr von sich hören ließ. Die Vorstellung war bedrückend.
    Kein Internetanschluss für seinen Laptop. Das hätte er voraussehen können. Hier, südlich des zweiundvierzigsten Breitengrads, begann die Kommunikationswüste. Man war auf wenige Oasen wie Luxushotels oder Internetcafés angewiesen. Aber er wusste auch dies: Sehr bald würde ihm selbst in Patagonien das ständige Bedürfnis abhanden kommen, weltweit Verbindungen herzustellen, die New York Times zu lesen und wichtigen Infos nachzujagen. Das kam alles von sehr weit her. Hier betrat man die Einsamkeitsgesellschaft.
    Immerhin konnte er dann doch im Büro hinter der Rezeption eine Mail an den Bürgermeister von Huemules, Ingenieur Jorge Jones, aufsetzen: Erst morgen, am 31. Dezember, werde er eintreffen. Die Sitzung mit den Vertretern der Mapuche-Gemeinde sei für neunzehn Uhr anberaumt. Das Projektdokument, das er und sein Team im Auftrag der Stiftung Boden und Frieden und der UNDP ausgearbeitet hätten, liege den Sprechern der Indigenen seit zwei Wochen vor. Er wolle zunächst nur ihre Stellungnahme dazu hören. Die Mapuche müssten indessen berücksichtigen, dass der argentinische Eigentümer des hundertsiebenundachtzigtausend Hektar umfassenden Landstrichs dem Käufer, einer niederländisch-amerikanischen Aktiengesellschaft, nichts von den alten Siedlungsrechten der Indios verraten habe. Der Rechtsstreit sei eingeleitet und werde sich noch lange hinziehen. Die Käuferseite habe indessen Verständnis für die unverschuldet schwierige Lage, in welche die kleine Gemeinde geraten sei; schließlich wären ja beide Seiten vom argentinischen Verkäufer hinters Licht geführt worden. Daher biete ihnen das Unternehmen, obwohl es dazu nicht verpflichtet sei, ein großzügig bemessenes, von Experten gründlich ausgearbeitetes Projekt an; es enthalte eine ganze
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