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Scherbengericht: Roman (German Edition)

Scherbengericht: Roman (German Edition)

Titel: Scherbengericht: Roman (German Edition)
Autoren: Germán Kratochwil
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– war eine Hysterikerin, völlig frustriert, weil sie es nie bis zur Konzertreife gebracht hatte, nur bis zur Klavierlehrerin. Gabriel, der Sohn, ist leider Gottes ein Querulant und Sektierer, und die schöne Katharina vollkommen exzentrisch – oder, auf gut Deutsch: durchgedreht, übergeschnappt, plemplem … Also ganz dein Fall!«
    Das mit dem »Urkeim der versteckten Niedertracht« hatte Dr. Königsberg über sich ergehen lassen, ohne dass sich in seinem Gesicht auch nur eine Falte bewegt hätte. Wenn in seinen blauen Augen etwas zu lesen war, so allenfalls stille Belustigung. Von den Enthüllungen des Sohnes über die Gesinnung seiner alten Freundin war er anscheinend weder schockiert noch auch nur überrascht. Ein aufmunternd verständnisvolles Lachspiel zog durch die tiefen Runzeln seines Gesichts, und in den Augenwinkeln zitterten Tränen der Heiterkeit. Gleichzeitig winkte er ab: »Nicht wahr, lieber Martin, auch ein Sechzigjähriger kann noch einmal herrlich durchatmen, wenn er seine Mutter ungestraft anschwärzen darf … Aber um Himmels willen, diese Antibegriffe verludern doch im alltäglichen Sprachgebrauch, bekommen eine militante Note, implizieren Fanatismus – so einfach ist keiner ein Antifaschist, Antikommunist, Antiislamist, Anti-anti … Damit wappnet man sich, im Guten wie im Bösen, und hält sich schon für einen Unentwegten. Oder umgekehrt: Man denunziert andere, bläst sie zum Popanz auf. Lassen wir das für später. Sollen wir uns Ihren Diskriminierungskomplex, wie Sie ihn zu nennen belieben, einschließlich Ihres sogenannten Antisemitismus nicht für einen geeigneteren Termin aufheben? Meine liebe Freundin Clementine schickt Sie doch nicht etwa deswegen zu mir?« Und da lächelte er immer noch.
    »Natürlich nicht. Meine Mutter wird Ihnen sicherlich gesagt haben, ich käme nach dem Tod meiner Frau nicht mehr mit dem Leben zurecht. Schon vorher nicht mit meinem Sohn Gabriel, jetzt mit meiner Tochter Katha auch nicht mehr. War es so?«
    Martin erinnerte sich, dass er hier eine Pause gemacht hatte, in Erwartung einer Bestätigung oder eines Widerspruchs des Therapeuten. Königsberg aber schien nun auf den gedämpft hereindringenden Verkehrslärm zu horchen, oder gar auf ein dünnes Geschirrklirren aus der Tiefe der Wohnung – Teegeschirr womöglich, denn es ging auf fünf Uhr zu. Also sah er sich geradezu gezwungen, fortzufahren.
    »Wissen Sie, meine Mutter hat gar nicht so unrecht – nicht nur aus ihrer Sicht – wenn sie mich zu Ihnen schickt. Denn kann ein derart Belasteter den Familien von Vertriebenen und ethnisch Verfolgten helfen? Menschen in zerrütteten Verhältnissen, mit psychischen Verwundungen, seelischen Traumata, oft gewalttätig gegen andere oder gegen sich selbst? Schauen Sie sich nur die Häufigkeit der Suizide an! In allen Ecken der Welt muss ich mich mit Unrecht gegen Minderheiten und Migranten, mit der Diskriminierung und Verfolgung von Religionen oder Ethnien oder Armutsflüchtlingen befassen. Doch Ihre Freundin Clementine kann nicht ahnen, wie es wirklich um mich steht, um einen, der selbst ganz genau weiß, dass sich nichts bessern wird und dass in uns allen – Opfern wie Tätern, Ignoranten wie Besserwissern – dasselbe Aggressionspotenzial steckt, dasselbe Talent zum Verbrechen. Und so werde ich alt und quäle mich mit meinen eigenen Vorurteilen herum, am abstrusesten mit dem Keim des Antisemitismus – wenn Sie mir den Begriff noch einmal erlauben möchten – tief in mir selbst. Erst seitdem mir Katha ihre Wahrheit zu spüren gibt, ist mir der Widerspruch in meinem Innern unerträglich geworden. Den Beruf des Helfers – ja des Theoretikers des Guten – zunehmend mit diesem subversiven, zersetzenden Geist ausüben? Das ist, wie wenn Sie, als Psychoanalytiker und Therapeut, insgeheim von den Wonnen der Umnachtung schwärmen würden … Ach, wissen Sie, ich habe ohnehin nicht mehr viele Jahre vor mir. Außerdem trinke ich.«
    An dieser pathetischen Stelle, gegen Ende der ersten Sitzung, so glaubte er sich zu erinnern, hatte er innegehalten, weil ihm bewusst geworden war, dass er zu wirr und vor allem viel zu viel ausgepackt hatte. Doch der geneigte (wenn nicht schon tief gebeugte) Zuhörer hatte zu all dem unerschütterlich geschwiegen. Nur Martins Anspielung auf die Versuchung des Wahnsinns bei einem Therapeuten hatte ein leichtes Beben durch den Faltenwurf seines Gesichts getrieben.
    Er war sich der ausufernden Ungeheuerlichkeit seines Verhaltens gegenüber
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