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Scherbengericht: Roman (German Edition)

Scherbengericht: Roman (German Edition)

Titel: Scherbengericht: Roman (German Edition)
Autoren: Germán Kratochwil
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schlaf halt hier«, sagte sie schlappernd und schlug mit der Handfläche zu ihrer Rechten auf die Federdecke.
    Darauf konnte er endlich in die Küche gehen, um sich Wein und ein Sandwich zu holen. Er fand die untröstlichen Hausgehilfinnen immer noch mit dem Geschirr des Geburtstagsfestes beschäftigt und Delia berichtete ihm aufgeregt von Quique. Der sei gegen Abend zurückgekommen, und sie habe ihm einen Teller mit den Resten des gegrillten Lammes und des Kipflerkartoffelsalats gefüllt – und noch eine gehörige Portion Dobostorte hinzugefügt. All das habe Quique mit Heißhunger verschlungen und sei dann auf sein Zimmer gegangen. Bald darauf aber habe er um Hilfe gerufen: Er hatte alles, mit Blut vermischt, wieder ausgekotzt. Sie begann vom Hantavirus zu sprechen, und ob es Quique nicht auch erwischt haben könnte. In ihren Kommentaren schien sich jedes Virus zu einem grässlichen Vampir auszuwachsen. Das fehlte ihm gerade noch. »Warten wir noch die Nacht ab, Delia. Falls es ihm morgen früh noch schlecht geht, fahre ich ihn gleich nach Quemquemtréu«, versprach er. Mirta schenkte ihm einen Humpen Wein ein. »Der ist für später«, flüsterte er ihr zu. Auf das Sandwich hatte er nach Delias Erzählung keinen Appetit mehr. Dann umarmte er mit Worten des Trostes die beiden Frauen und ließ sie noch eine gute Weile in sein Holzfällerhemd hineinweinen.
    War Katha die geeignete Begleiterin für Mama? Sie standen ja beide noch unter der Schockwirkung. Nachdem er die Küche verlassen hatte, schlich er sich, den Weinkrug in der Hand, an die Tür der Mutter und horchte eine Weile: kein Laut, sie schliefen wohl endlich. Also kehrte er ins Gästehaus zurück.
    Da saß er nun und nagte an der ersten Zeile seiner pflichtgemäßen Logbuch-Eintragung. Quemquemtréu, Tilo-Hof. Erster Jänner 2000. So war die leere Seite überschrieben. Er sah alles in Frage gestellt, was ihn bis heute Mittag noch so übermütig und befreit, ja so zukunftsgewiss gestimmt hatte. Auch das lange Beisammensitzen und Gerede unter dem Lindenbaum war ja vorwiegend heiter oder zumindest grotesk gewesen. Es war ihm, als stiege langsam eine schwarze Gewitterfront in seinem Inneren auf, noch ungewiss, wann und mit welcher Gewalt sie sich entladen würde, und zugleich unterbrach und durchpulste ihn wiederholt, für kurze Augenblicke, das Vorgefühl einer nahenden Lust. Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück, betrachtete sein Spiegelbild im Fensterglas: über ihm Finsternis, darunter, im abgeschirmten Lampenlicht, sein ratloses Gesicht, und darunter das zerknitterte Hemd.
    Ein inneres Zwiegespräch kam nicht zustande, aber der Krug war bald zur Hälfte geleert. Ort und Tag, ja, das war einfach gewesen. Aber womit jetzt anfangen, fortfahren? Er dachte an das erste, enttäuschende Gespräch mit Treugott am Grillplatz, an die glitzernden Scherben der zerbrochenen Kristallschüssel, an den nagelneuen Rollstuhl. Und zugleich schien ihm klar bewusst zu sein, dass dieser Tod, dass dieser geschätzte Mensch und sein Schicksal nur ein Zwischenfall am Rande seines eigenen Zusammenbruchs war – dass ihn damit im Grunde überhaupt nichts verband, dass ihm das Ganze nicht einmal, wie seiner Mutter, als eine Rücksichtslosigkeit des Gastgebers erscheinen konnte. Ein Stilbruch zur Jahrhundertwende, vielleicht. Warum sollte er etwas groß anmerken, was ihn nichts anging und nur die anderen am Festtisch in Aufruhr versetzt hatte? Zugleich aber widersprach ihm etwas aus dem Bewusstsein. Es sei keineswegs so, ihnen allen, außer dem Ehepaar Krohn aus Israel, bedeute dieser Tod sehr viel, sogar Endgültiges. Er fühlte Verwirrung, Gereiztheit, Überdruss, musste aufstehen, nach draußen gehen, und er trat vors Haus.
    Es war kühl und windstill, balsamischer Duft des Lindenbaums erfüllte die Nacht. Am Talboden das durchbrochene Lichternetz von Quemquemtréu; dort unten lag der Selbstmörder aufgebahrt, und war der Prophet ans Bett gefesselt; dort saß der alte Psychotherapeut, bemüht um eine vom Schmerz gebrochene Rotraud. Als Martins Ohr sich an die weite Stille gewöhnt hatte, begann er ein Rauschen herauszufiltern, das wohl vom Fluss aus der Tiefe heraufkam und, von den Berghängen zurückgeworfen, ihn hier oben erreichte. Es erschien ihm wie ein Fahrgeräusch der gesamten nächtlichen Landschaft. Und immer wieder wird er, der Stadtmensch, von der Pracht des klaren Nachthimmels überwältigt. Er erkennt den »schönen« Orion, er betrachtet die vertraute Anordnung der
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