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Scherben: Du tötest mich nicht (German Edition)

Scherben: Du tötest mich nicht (German Edition)

Titel: Scherben: Du tötest mich nicht (German Edition)
Autoren: Kerstin Ruhkieck
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gegen ihr Fleisch – einmal, zweimal, dreimal. In ihrem Kopf tauchten ungewollt Bilder von einem Gemetzel auf, bei dem das Blut in ihr G esicht spritzte, gegen die Wand und bis an die Decke, und nur sie konnte es aufhalten. Wenn sie wollte.
    Der schneidende Schmerz, das Brennen und die Feuchtigkeit kamen spät, Vanessa konnte nicht sagen, wie oft sie sich g eschnitten hatte. Mit dem Schmerz kam die Erleichterung. Langsam kehrte sie zurück in die Realität und bemerkte erst jetzt, dass bei jedem Schlag, bei jedem Schnitt ächzende Laute aus ihrer Kehle gedrungen waren. Der Schmerz breitete sich in ihrem Arm aus und begann ganz allmählich, ihren Körper zu ergreifen. Er übernahm ihr physisches Sein und brachte ein wohliges Gefühl zurück in ihren Verstand. Und Vanessa wusste auch, was dieses wohlige Gefühl war:
    Selbstbewusstsein. Gleichgültigkeit für die Gedanken and erer. Zuneigung für sich selbst. Erst jetzt öffnete sie wieder ihre Augen. Die Glasscherbe hatte auf ihrem Unterarm fleischig-rote Striemen hinterlassen, aber es floss nur wenig Blut. Und doch war ihre Haut zerfetzt, Narben würden bleiben. Vanessa mochte keine Narben. Sie waren es nicht, worum es ihr ging, aber sie gehörten dazu. Sie brauchte eine Erinnerung. Sie durfte niemals vergessen, wie sehr sie sich gedemütigt fühlte, damit es nicht wieder geschah. Wenigstens hierbei würden ihr die Narben helfen.
    Die Fleischwunden mit dem Blut empfand Vanessa dagegen als Kunstwerk. Als Beweis dafür, wer sie war und wer sie sein wollte. Was sie bereit war zu tun. Es fiel ihr schwer, i hren Blick von den blutigen Striemen abzuwenden.
    Plötzlich flog die Tür zur Damentoilette auf und Frieder ike stand im Türrahmen. Ihr Karies förderndes Lächeln war aus ihrem Gesicht gewischt und mit entsetzten Augen starrte sie Vanessa an.
    »Was …?«, begann sie.
    Vanessa ließ die Scherbe fallen. »Verschwinde!«, schrie sie dem anderen Mädchen entgegen. »Verschwinde!«, kreischte sie noch einmal, bis Friederike zurückwich und hinter der zufallenden Tür verschwand.
    Vanessa spürte das Selbstbewusstsein durch ihren ganzen Körper strömen. Be inahe liebevoll ließ sie ihren Zeigefinger über eine der blutenden Striemen gleiten. Schmerz zuckte noch heftiger durch ihre Nervenbahnen, doch das war okay. Hauptsache, sie musste sich nicht selbst in die Augen sehen.
     
     
    14 Jahre früher als heute
    Dienstag, 19. Juli
     
    Sie nannten es schon jetzt einen ‚Jahrhundertsommer‘. Sie, das waren die anderen, die Erwachsenen. Doch bei den Kindern und Jugendlichen im Dorf fand dieser Ausdruck keinen Platz in ihrem Wortschatz. Für sie war Sommer, es waren Ferien und es war heiß.
    »Es ist so verdammt heiß, dass sich sogar die Nigger in den Schatten stellen«, pflegte Connys Vater stets zu sagen. Co nnys Vater nutzte häufig derartige Wörter – Kanake, Spagettifresser, Schlitzauge, Kümmeltürke – um Menschen aus einem anderen Land zu beschreiben. Conny hatte, solange er denken konnte, nicht verstanden, was so schlimm daran war, nicht aus Deutschland zu kommen. So toll war es hier nun auch nicht. Eines Abends vor zwei Jahren, Conny war gerade zwölf gewesen, fragte ihn sein Vater: »Dieser Bengel mit dem du neuerdings immer rumhängst, der ist doch hoffentlich nicht so‘n dreckiger Polacke, oder?«
    Darauf hatte Conny seinem Vater schulterzuckend geantwo rtet: »Keine Sorge. Nicky ist nur ein dummer Kartoffelfresser, genau wie du.«
    Daraufhin hatte Conny die schlimmste Tracht Prügel se ines bisherigen Lebens bezogen – und das sollte was heißen. An diesem Tag hatte Conny seinen Arsch – und sein Gesicht – für seinen besten Freund Nicky hingehalten, und er würde es immer wieder tun.
    Mittlerweile war Conny vierzehn, Nicky ein halbes Jahr ä lter, und sie waren immer noch die besten Kumpel. Es gab nur sie zwei und die Sommerferien, die ihnen ganz alleine gehörten. Nichts und niemand würde – durfte – ihnen in die Quere kommen, das würde Conny nicht zulassen.
    »Letzte Nacht wieder von Mösen geträumt, Alter?«, rief N icky ihm an diesem Morgen - und wie auch an jedem anderen Tag - auf der Straße entgegen, als er Conny auf seinem Weg in die Wälder abholte. Es war zu etwas wie einer Tradition geworden, ihren gemeinsamen Tag auf diese Weise zu starten, und das, obwohl die Ferien gerade erst begonnen hatten. Während der Schulzeit mussten sie die meiste Zeit getrennt verbringen, da Nicky eine Klasse unter Conny war. Durch den Umzug seiner
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