Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Scherben der Ehre

Scherben der Ehre

Titel: Scherben der Ehre
Autoren: Lois McMaster Bujold
Vom Netzwerk:
Alles entspricht den Vorschriften, außer dieser kleinen Vid-Diskette von zu Hause. Von seiner Frau, würde ich mir vorstellen. Ich denke, es muss sehr nett gewesen sein, ihn zu kennen.«
    Sie legte die gesammelten Gegenstände sorgfältig in den gekennzeichneten Beutel.
    »Schauen Sie sich nicht die Diskette an?«, fragte Ferrell.
    »O nein. Das wäre indiskret.«
    Er stieß ein Lachen hervor. »Ich sehe da keinen Unterschied.«
    »Ach.« Sie beendete die medizinische Untersuchung, legte den Leichensack aus Plastik bereit und begann die Leiche zu waschen. Als sie schließlich zur sorgfältigen Reinigung des Genitalbereichs überging, die wegen der Erschlaffung der Schließmuskeln notwendig war, floh Ferrell.
    Diese Frau spinnt , dachte er. Hat sie sich deshalb diesen Job ausgesucht? Oder ist sie erst durch diese Arbeit so geworden?
    Es dauerte einen weiteren ganzen Tag, bis sie den nächsten Fisch an der Angel hatten. Während seines Schlafzyklus hatte Ferrell einen Traum: Er war auf einem Hochseeboot und holte Netze voller Leichen herauf. Sie waren feucht und glänzten, als wären sie mit schillernden Schuppen überzogen, und wurden im Frachtraum auf einen großen Haufen geworfen.
    Er erwachte schwitzend, aber mit sehr kalten Füßen. Mit großer Erleichterung kehrte er auf die Pilotenstation zurück und schlüpfte in die Haut seines Schiffes. Das Schiff war sauber, mechanisch und rein, unsterblich wie ein Gott; man konnte vergessen, dass man jemals einen Schließmuskel besessen hatte.
    »Seltsame Flugbahn«, bemerkte er, als die Medizintechnikerin wieder ihren Platz an der Steuerung des Traktorstrahls einnahm.
    »Ja … Oh, ich verstehe. Er ist ein Barrayaraner. Er ist weit weg von zu Hause.«
    »Oh, pfff! Schmeißen Sie ihn wieder zurück.«
    »O nein. Wir haben Identifikationsdateien für alle ihre Vermissten. Teil der Friedensvereinbarung, wissen Sie, zusammen mit dem Gefangenenaustausch.«
    »Wenn man bedenkt, was sie unseren Leuten angetan haben, die gefangen waren, dann denke ich nicht, dass wir ihnen irgend etwas schulden.«
    Sie zuckte die Achseln.
    Der barrayaranische Offizier war ein großer, breitschultriger Mann gewesen, ein Oberstleutnant, nach den Rangabzeichen an seinem Kragen zu schließen. Die Medizintechnikerin behandelte ihn mit der gleichen Sorgfalt, die sie auf Leutnant Deleo verwendet hatte, und sogar noch mehr. Sie gab sich beträchtliche Mühe, ihn zu glätten und geradezustrecken und das gefleckte Gesicht mit ihren Fingerspitzen so zu massieren, dass es wieder dem Gesicht eines Menschen glich, ein Vorgang, den Ferrell mit zunehmendem Widerwillen beobachtete.
    »Ich wünschte, seine Lippen wären nicht ganz so sehr geschürzt«, bemerkte sie während ihrer Arbeit. »Das gibt ihm nach meiner Vorstellung ein uncharakteristisch mürrisches Aussehen. Ich denke, er muss ziemlich gut ausgesehen haben.«
    Einer der Gegenstände in seinen Taschen war ein kleines Medaillon. Es enthielt eine winzige Glasperle, die mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt war. Auf der Innenseite des goldenen Deckels waren über und über Schriftzeichen in den kunstvollen Schnörkeln des barrayaranischen Alphabets eingraviert.
    »Was ist das?«, fragte Ferrell neugierig.
    Sie hielt das Medaillon nachdenklich ans Licht. »Es ist eine Art Talisman oder Andenken. Ich habe in den letzten drei Monaten eine Menge über die Barrayaraner gelernt. Wenn man zehn von ihnen auf den Kopf stellt, dann fällt bei neun von ihnen eine Art Talisman oder Amulett oder Medaillon oder etwas anderes in der Art aus den Taschen. Die hohen Offiziere sind genauso schlimm wie die Unteroffiziere und die Mannschaften.«
    »Törichter Aberglaube.«
    »Ich bin mir nicht sicher, ob es Aberglaube ist oder nur Sitte. Wir haben einmal einen verletzten Gefangenen behandelt – er behauptete, es sei nur eine Sitte. Die Leute gäben sie den Soldaten als Geschenke, und niemand glaube wirklich daran. Aber als wir ihm seinen Talisman wegnahmen, um ihn für die Operation zu entkleiden, da versuchte er, mit uns darum zu raufen. Es waren drei unserer Leute nötig, um ihn für die Anästhesie niederzuhalten. Ich hielt es für eine ziemlich bemerkenswerte Leistung bei einem Mann, dem die Füße weggerissen worden waren. Er weinte … Natürlich stand er unter einem Schock.«
    Ferrell ließ das Medaillon am Ende der kurzen Kette baumeln; gegen seinen Willen faszinierte es ihn. Daneben hing ein Pendant, eine Haarlocke, die in einen Plastikanhänger eingebettet
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher